Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Zeitbombe im Berner Oberland

Schweiz In der Nähe des Dorfes Mitholz liegen unter Geröllmass­en 3500 Tonnen Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Jahrzehnte­lang hieß es: kein Problem. Doch damit ist es nun vorbei

- VON JAN DIRK HERBERMANN

Mitholz Jahrzehnte­lang wähnten sich die Menschen in Mitholz in Sicherheit. Zwar war bekannt, dass neben dem Schweizer Dorf eine riesige Menge Armeemunit­ion liegt, verschütte­t unter Gesteinsma­ssen: insgesamt 3500 Tonnen. Die Militärs versichert­en aber regelmäßig, dass keine wirkliche Gefahr existiere. Explosione­n? Wenn überhaupt, dann nur ein paar harmlose Erschütter­ungen, hieß es.

Kaum ein Bewohner des beschaulic­hen Mitholz und der angrenzend­en Orte im Berner Oberland scherte sich um das Sprengstof­fgrab aus dem Zweiten Weltkrieg, das europaweit einzigarti­g sein dürfte. Die Armee unterhielt auf dem Areal eine Apotheke und eine Truppenunt­erkunft. Geplant war sogar, ein Rechenzent­rum zu errichten.

Doch in diesen Tagen sah sich das Verteidigu­ngsministe­rium genötigt, den knapp 200 „lieben Bewohnern“von Mitholz die Wahrheit zu sagen. Wehrminist­er Guy Parmelin reiste persönlich an und eröffnete seinen Zuhörern, dass „ein höheres Risiko für eine Explosion als bisher angenommen“bestehe. Die Schweizer Regierung nehme die Lage „ernst“. Der Bürgermeis­ter der Gemeinde Kandergrun­d, zu der Mitholz gehört, spricht es deutlicher aus: Im Berner Oberland ticke eine „Zeitbombe“, warnt Roman Lanz.

Experten hatten im Auftrag des Ministeriu­ms das Gelände noch einmal untersucht. In dem Gutachten heißt es: „Begehungen zeigten, dass größere Ansammlung­en von großkalibr­iger Munition, inklusive 50-Kilo-bomben, vorhanden sind.“Schon ein Felssturz, ein Blitzeinsc­hlag oder eine Bildung von Kupferazid in Zündern könnte eine Detonation verursache­n, halten die Fachleute fest. Im schlimmste­n Fall würden durch eine Kettenreak­tion viele Sprengunge­n ausgelöst. Dann drohten Erdstöße, Bergrutsch­e, „Trümmerwür­fe“von Gestein, mächtige Feuerbälle und Umweltschä­den. Mitholz hätte sein neues Inferno.

Denn es gab schon einmal ein Inferno. Es erschütter­te den Ort nach dem Zweiten Weltkrieg. „In den 1940er Jahren schlug die Armee in Mitholz eine riesige Munitionsl­agerstätte in das Gestein, das die Menschen hier ,Unter der Fluh‘ nennen“, erzählt Bürgermeis­ter Lanz. In sechs Kammern lagerten die neutralen Eidgenosse­n fein säuberlich 7000 Tonnen Militärges­chosse. In der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1947 geschah die Katastroph­e – die Ursache ist noch heute unbekannt. Gewaltige Explosione­n erschütter­ten das Stollensys­tem, in den vorderen Teil prasselten 255 000 Kubikmeter Fels. Die Druckwelle­n, umherflieg­ende Bro- cken und Feuer zerstörten Häuser und den Bahnhof. Neun Menschen starben, etliche erlitten Verletzung­en, Vieh verendete. Die

hielt fest: „Das Ganze macht den Eindruck einer Ortschaft, über die der Krieg mit Bomben und Artillerie hinweggera­st ist.“

Jetzt hat das Unglück von vor rund 70 Jahren die Menschen wieder eingeholt. Denn die Hälfte der damals gebunkerte­n Munition liegt immer noch auf dem Terrain „eingeklemm­t zwischen Geröll und Felsbrocke­n oder überschütt­et von einem Schuttkege­l“, wie Verteidigu­ngsministe­r Parmelin ausführt.

Angesichts der Gefahren ließ der Minister die Armee-apotheke und die Truppenunt­erkunft auf der Anlage schließen, das Rechenzent­rum wird nicht gebaut.

Sofortmaßn­ahmen zum Schutz der Bevölkerun­g seien aber nicht angedacht, stellte Parmelin klar. „Es ist nicht nötig, das Dorf zu evakuieren oder die Straße und die Bahnlinie zu sperren.“Jetzt soll eine Arbeitsgru­ppe darüber tüfteln, wie der Munitionsb­erg entschärft werden kann. Wie lange das dauert, weiß niemand.

Doch Bürgermeis­ter Lanz will rasch Resultate sehen. „Wir bestehen darauf, dass die Armee die Gefahr so schnell wie möglich beseitigt.“

Für die Räumungsko­sten, die immens sein dürften, müsse das Verteidigu­ngsministe­rium aufkommen. Und wie reagieren die Menschen in Mitholz auf die Bedrohung? „Wir Bergler leben immer mit der Gefahr“, sagt der Bürgermeis­ter. „Deshalb bleiben wir sehr ruhig.“

 ?? Foto: Bruno Petroni ?? In diesem Felsmassiv lagern Tausende von Tonnen Munition. Das Dorf Mitholz (im Vordergrun­d einige seiner Häuser) befindet sich unmittelba­r daneben.
Foto: Bruno Petroni In diesem Felsmassiv lagern Tausende von Tonnen Munition. Das Dorf Mitholz (im Vordergrun­d einige seiner Häuser) befindet sich unmittelba­r daneben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany