Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wie mit Händen zu greifen
Schaezlerpalais Eine Sonderschau zum niederländischen Kupferstecher Hendrick Goltzius führt die sensationelle Plastizität seiner Menschen- und Götter-darstellungen vor Augen
Das nennt man Weitsicht und Lebensplanung, was in den kommenden Zeilen beschrieben wird. Oder auch: Glaube, Liebe, Hoffnung. Hendrick Goltzius, der niederländische Kupferstecher, hatte ausgelernt, gut geheiratet und gerade seinen 24. Geburtstag gefeiert, als er seinen eigenen Verlag in der Bierbrauer- und Schiffbauerstadt Haarlem gründete – um seine Grafik künftig selbst zu Markte zu tragen.
Eine künstlerische Visitenkarte wäre hilfreich in solcher Situation! Und so setzt sich der junge Mann in seiner Werkstatt vor Kupferplatten, ruhend auf einem Lederkissen, und beginnt mit seiner behinderten rechten Hand, die er sich schon als Einjähriger schwer verbrannt hatte, vier Motive zu stechen. Ihm schwanen vor: Mittel und Wege zum Glück.
Und genau so benennt er seinen neuen Zyklus, der anhebt mit Personifikationen von und um über die Darstellung von und zu den Allegorien von und zu kommen. Soll heißen: Wer – wie er, Hendrick Goltzius – fleißig arbeitet, übt und lernt, wird gesellschaftlichen Erfolg erringen. Ein schönes Programm, ein schönes Inhabercredo – abgezogen von der Kupferplatte auf etliche Dutzend Blätter.
Das Schöne an dieser Geschichte ist weniger, dass sie stimmt, sondern: dass sie klappte. Goltzius starb angesehen und vermögend am Neujahrstag 1617. Kaiser Rudolf II. in Prag, ein ausgewiesener Kunstkenner und nachgerade manischer Sammler, der nicht nur Arcimboldo und Adriaen de Vries am Hof beschäftigte, hatte Goltzius bereits 1595 ein Privileg ausgestellt, wonach dessen Stiche sechs Jahre lang – urheberrechtlich – sein sollten vor Kopien.
Warum aber klappte die Lebensplanung des Hendrick Goltzius? Genau dies ist jetzt in einer Sonderausstellung des Schaezlerpalais zu studieren, das rund 90 Kupferstiche und gut zehn Holzschnitte aus der so deformierten wie virtuosen Hand des Künstlers präsentiert. Sie gehören der historischen Sammlung der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau – und gleich zu Beginn der Schau in neun Kapiteln sieht der scharf hinguckende Betrachter, worin die virtuose Kunst von Goltzius technisch begründet liegt. geschützt
Im besagten Zyklus „Mittel und Wege zum Glück“ist die Personifikation der geübten Kunstfertigkeit („Usus“) dabei zu beobachten, wie sie mit Feder auf einem Zeichenblock Schraffuren anlegt. Und genau die Goltzius-virtuosität der vielfältigen Schraffur-nuancen mit ihren bewunderungswürdigen Bildwirkungen war sein künstlerisches Kapital. Wie er die Linien des Stichels an- und abschwellen lässt, wie er sie mal im stumpfen, mal im scharfen Winkel kreuzt, mit konzentrischen Kreisen verknüpft und ins strahlende Weiß des Blattes auslaufen lässt, das sind seine geballt ingleichsam dividuell genutzten Mittel, um sensationelle Plastizität, Tiefenschärfe und Licht-schatten-effekte zu erzielen. Die Körperauffassung von Goltzius neigt zum Drallen, Muskulösen – und genau dies weiß er in seiner Methode überragend zu beglaubigen – quasi als Vorläufer der Fotografie. Die vielen Nackten im mythologischen Themenkreis: wie manieristisch-handgreiflich! Die vielen Heiligen im christlichen Themenkreis: wie expressiv-gespannt sind sie in ihrem Leiden und Hoffen! Die vielen Goltzius-figuren, die tugendsam mahnen, warnen und leiten sollen: welche Präsenz! Man betrachte nur den Ikarus im runden Kupferstich oben: Hier scheint nicht das Abbild eines Übermütigen zu stürzen, sondern tatsächlich ein Körper, eine Skulptur. Als der Stich 1588 entstand, trug sich Goltzius – nach dem Studium von Schongauer, Dürer, van Leyden – mit dem Gedanken, noch die Antike und Spätrenaissance in Italien zu ergründen. Auch das klappte. Wohl Ende 1590 kam er – zu Fuß – durch Augsburg; wo seine Grafik übrigens auch Wirkung hinterließ: In einem Fürstenzimmer des Holl-rathauses sollten 1620 „Tugend“-ofenfiguren aufgestellt werden, die auf Kupferstichen von Goltzius basierten. (Heute sind es Nachschöpfungen.) Anfang 1591 erreichte Goltzius Rom, wo er u. a. Werke von Michelangelo („Moses“) und Raffael altmeisterlich abzeichnete. Der Italien-aufenthalt sollte seine Manier beschwichtigen.
Öffnungszeiten bis 23. September, Di. bis So. 10 – 17 Uhr. Der umfangrei che Katalog zur Sammlung ist im Verlag Michael Imhof erschienen (49,95 ¤).