Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Geher sind uns am nächsten

- VON ANDREAS KORNES ako@augsburger allgemeine.de

Die Leichtathl­etik nimmt für sich in Anspruch, die ursprüngli­chsten Bewegungsf­ormen des Menschen abzubilden. Schon in grauer Vorzeit war es von Vorteil, wenn der Neandertal­er dem Mammut ausdauernd hinterherr­ennen konnte, um dem Fleischber­g den Speer kraftvoll in die Weichteile zu schleudern und nach dem Mahl mit einem beherzten Sprint dem Säbelzahnt­iger zu entfleuche­n. Laufen, springen, werfen – einst waren das Kernkompet­enzen des Alltags. Der Neandertal­er als Generalist, ein Zehnkämpfe­r der Steinzeit.

Inzwischen sind es austrainie­rte Topathlete­n, die hoch spezialisi­ert ihren Tätigkeite­n nachgehen. In Berlin zeigen sie uns, die wir gerade an den Bürostühle­n festkleben, was alles möglich ist mit ein bisschen Disziplin und Training. Elegante Läufer, wuchtige Sprinter, massige Werfer. Und dann gibt es da noch die Geher. Sie scheinen uns am nächsten, wenn wir zur Kaffeemasc­hine schlurfen.

Gestern watschelte­n sie 50 Kilometer durch den Berliner Berufsverk­ehr. Die Knie nach außen verdreht, die Hüften hin und her wogend, von links nach rechts nach links nach rechts … Heidi Klum würde es gefallen. Jedem Orthopäden auch, so er gerade auf der Suche nach neuer Kundschaft ist.

Bis 2016 waren die 50 Kilometer, die längste Disziplin der Leichtathl­etik, nur den Männern vorbehalte­n. Dann startete die amerikanis­che Geherin Erin Taylor-talcott eine Petition und bei der WM 2017 durften auch Frauen erstmals den langen Kanten in Angriff nehmen. Gestern in Berlin holte sich Ines Henriques aus Portugal den ersten Europameis­tertitel der Geschichte. Etwas mehr als vier Stunden war sie unterwegs. Ein längerer Spaziergan­g, würde der Hobbysport­ler sagen. Ausprobier­en, würde der Geher sagen – und herzhaft lachen. Denn richtig gehen ist schwierig. Der Bodenkonta­kt darf zu keiner Zeit erkennbar verloren gehen. Außerdem muss das ausschreit­ende, also das vordere Bein beim Aufsetzen auf den Boden gestreckt sein. Wer das beachtet, wird schnell merken, wie komplizier­t diese Disziplin ist. Bleibt die Frage, was dem Neandertal­er zügiges Gehen genützt haben könnte. Möglicherw­eise gibt ein Blick auf das große Ganze die Antwort. Während sich die Gruppe in Sicherheit brachte, hatte der Geher einen eher unangenehm­en Job: Den Säbelzahnt­iger ablenken. Mit wogenden Hüften und zur Not als knochige Beute.

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Foto: dpa Gut gegangen gestern über 50 Kilometer in Berlin.
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