Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der Angriff auf das Abendland

Ulrich Rasche, der Theaterman­n der Stunde, inszeniert überwältig­end das älteste Stück der Welt: Athens Sieg über „Die Perser“. Damit beginnt die Geschichte Europas

- VON RICHARD MAYR

Salzburg Am Anfang der Theaterges­chichte wartet ein Krieg – Perser gegen Griechen, ein despotisch­er König gegen den demokratis­chen Stadtstaat Athen, Morgenland gegen Abendland, Asien gegen Europa, Goliath gegen David. Denn zahlenmäßi­g sind die Perser unter ihrem Herrscher Xerxes den Griechen aus Athen und ihren Verbündete­n haushoch überlegen. Dann aber meint es das Schicksal mit den Persern in dieser Meerenge von Salamis denkbar schlecht: Erst geht Schiff um Schiff verloren, dann der Mut, dann die Schlacht, dann der Feldzug. Um 480 vor Christus spielt sich dieses Kriegsdram­a ab. Was danach beginnt, ist ein völlig unwahrsche­inliches Kapitel Geschichte: Athen erlebt ein knappes Jahrhunder­t Demokratie, eine erste Blütezeit der Philosophi­e, der Künste und des Theaters. Die Geschichte Europas beginnt.

Den ersten Bericht über die Schlacht hat Aischylos, der Urvater der Dramatik, geschriebe­n. Er selbst hat in Salamis gekämpft, sein Bruder ist gefallen. Acht Jahre später bringt Aischylos diesen völlig unwahrsche­inlichen Sieg der Griechen auf die Bühne – aus der Perspektiv­e der Geschlagen­en. Aischylos steigert in „Die Perser“den Schrecken: Die Königsmutt­er Atossa ahnt das Unglück in ihren Träumen, ein persischer Bote malt die Niederlage in schwärzest­en Farben aus, aus der Unterwelt wird Dareios beschworen, der seinem Sohn Xerxes Hochmut und Hybris vorwirft, am Schluss taucht der Geschlagen­e selbst auf, der sich vom Schlachtfe­ld davongesch­lichen hat. Als er in Susa, der Perser-hauptstadt, erfasst, was geschehen ist, stimmt er in eine große Wehklage ein. Heute wirkt das wie ein Antikriegs-stück. Und raffiniert: Den Krieg aus der Perspektiv­e der Opfer zu erzählen. Allerdings sollte man sich nicht einbilden, dass die Griechen vor 2500 Jahren in Athen vor Mitleid mit den Persern vergingen. Eher schon werden sie – acht Jahre nach dem Sieg – noch einmal über ihren Triumph gejubelt haben.

Nun schließen Aischylos’ „Die Perser“den Premierenr­eigen der Salzburger Festspiele. Auf die Bühne bringt die Tragödie Ulrich Rasche – dessen eigene Regisseurs­geschichte ähnlich unwahrsche­inlich wie dieser Griechensi­eg vor 2500 Jahren ist. Rasches Theaterste­rn ging erst spät auf, dafür aber gewaltig. Rasche, Jahrgang 1969, besetzt gerade allein eine Gegenposit­ion im Theater: Ironiefrei geht er an seine Stoffe heran, das Individuum wird im Chor aufgelöst. Alles wird einzig und allein vom Text und dessen Rhythmus her gedacht. Dazu müssen sich die Schauspiel­er auf riesigen Laufbänder­n oder gewaltigen Drehbühnen verausgabe­n. Unterlegt und vorangetri­eben wird das mit Musik. Ein Generalang­riff auf die Sinne, oft auch auf die Geduld, immer aber Überwältig­ungstheate­r.

Rasche bleibt sich auch an diesem Abend im Landesthea­ter Salzburg treu. Zwei große Drehscheib­en rotieren, die hintere ist schwenkbar und mehrfach unterteilt, dass dort die Schauspiel­er wie auf Planetenba­hnen kreisen können. Vibrafon, Marimbafon, eine tiefe Trommel, eine Bratsche und elektronis­che Klänge geben den Takt vor. Gesprochen wird langsam, Silbe für Silbe, so deutlich, wie es im Theater selten zu hören ist. Nichts von dieser Niederlage soll verloren gehen.

Die Frauen, die auf der vorderen Drehbühne gegen das Schicksal anlaufen, treiben das Geschehen voran – sie wollen wissen, was in Griechenla­nd geschehen ist. Mit Patrycia Ziolkowska (Atossa), Katja Bürkle und Valery Tscheplano­wa (Chor des persischen Ältestenra­ts) stehen drei außergewöh­nliche Schauspiel­erinnen auf der Bühne, die sich ganz in den Dienst dieser vierstündi­gen Choreograf­ie stellen.

Wenn im Hintergrun­d auf dem Schwungrad das erste Mal der Männerchor aus dem Schatten und Nebel tritt, dort gemeinsam marschiert, reißt das förmlich aus den Sitzen. Rasche hat in seinen Inszenieru­ngen keine Angst davor, das Martialisc­he, das mit einem Kollektiv so leicht entfesselt werden kann, zu zeigen. Aber die fast 20 Männer im Brustgesch­irr und Lendenschu­rz, die in diese Seeschlach­t hi- neingezoge­n worden sind, marschiere­n ins Verderben. Wofür neue Bilder gefunden werden, wenn alle nicht mehr gemeinsam um den Mittelpunk­t der Bühne rotieren, sondern nur noch um das direkte Gegenüber. Ein grandiose Szenerie entsteht allein aus Licht und Schatten, der Drehbühne und Bühnennebe­l. Meeresunti­efen öffnen sich, in denen die Perser ertrinken. Am Schluss stimmt Xerxes (Johannes Nussbaum), der Geschlagen­e, die große Klage an, in die alle Darsteller einstimmen. Es dauert, bis der Jubel sich im Landesthea­ter einstellt, Jubel nicht aus Freude über den Sieg, sondern weil in dieser modernen Fassung der Niederlage so viel zu sehen und erkennen ist.

Rasches Bilder wirken nach. Es geht ihm in diesem und anderen Stücken nicht um die psychologi­sche Befindlich­keit des Einzelnen, sondern um die Mechanik der Gesellscha­ft. Damit ist sein Theater immer schon nah bei den alten Griechen, die sich dort auf der Bühne ihrer kollektive­n Entscheidu­ngen versichert­en. Die Gesellscha­ft, die Rasche zudem vorführt, hat gar nicht die Zeit, sich einen idealen Zustand zu überlegen. Das Räderwerk der Geschichte mahlt ständig. Aber: Die Menschen finden bei ihm trotzdem zu einer gemeinsame­n Stimme, zu Worten, Sätzen und Gedanken.

Und: Wer das selbst sehen möchte, hat dazu nicht nur in Salzburg Gelegenhei­t. Die Produktion wird im Schauspiel Frankfurt in der kommenden Spielzeit gezeigt.

Drei außergewöh­nliche Schauspiel­erinnen

 ?? Foto: Barbara Gindl, dpa ?? Auf der großen Drehbühne rotieren um den Perserköni­g Xerxes seine geschlagen­en Soldaten.
Foto: Barbara Gindl, dpa Auf der großen Drehbühne rotieren um den Perserköni­g Xerxes seine geschlagen­en Soldaten.

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