Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wieder daheim

Anklage Die Ulmer Journalist­in Mesale Tolu ist mit ihrem dreijährig­en Sohn zurück in Deutschlan­d. Sieben Monate war sie in der Türkei im Gefängnis. Jetzt durfte sie das Land überrasche­nd verlassen, obwohl gegen sie noch ein Terrorproz­ess läuft. Warum sie

- VON SEBASTIAN MAYR, LUDGER MÖLLERS UND SUSANNE GÜSTEN

Stuttgart Mit versteiner­ter Miene und fester Stimme berichtet die Ulmer Journalist­in und Übersetzer­in Mesale Tolu nach ihrer Landung auf dem Stuttgarte­r Flughafen von einer monatelang­en Tortur in der Türkei. Wie türkische Polizisten in einer Nacht im April 2017 ihre Wohnung schwer bewaffnet gestürmt hätten. Wie sie gewaltsam zu Boden gedrückt, bedroht und beschimpft wurde. Wie eine Waffe auf ihren kleinen Sohn gerichtet war. Wie ihr in der anschließe­nden Untersuchu­ngshaft der Zugang zu konsularis­cher Betreuung verwehrt wurde.

Mesale Tolu nennt all das, was ihr widerfahre­n ist, eine „Kette der Ungerechti­gkeit“. Die Terrorvorw­ürfe gegen sie hätten sich die türkischen Behörden aus den Fingern gesogen. Ihr Sohn Serkan, der inzwischen fast vier Jahre alt ist, lebte wochenlang gemeinsam mit ihr im Frauengefä­ngnis im Istanbuler Stadtviert­el Bakirköy. Als Spielzeug hatte er nur einen kleinen, blauen Plastikbal­l – mehr wurde ihm nicht erlaubt.

Gestern um 13.23 Uhr landete die Maschine aus Istanbul mit Mesale Tolu an Bord auf dem Stuttgarte­r Flughafen. Im Terminal 3 haben sich Kamerateam­s aufgebaut, wollen die ersten Umarmungen, Tränen, Freudenstr­ahlen einfangen. Auch Tolus Vater, Ali Riza Tolu, ist gekommen. Er hat sich um seine Tochter und den Enkel gekümmert, ist monatelang energisch und wortgewalt­ig aufgetrete­n. „Ein großer Tag“, freut er sich. Der Bruder ist da, die Schwester, die hoch betagte Großmutter Güley. Sie möchten die Schwester, die Enkelin begrüßen. Doch jetzt übernimmt die Bundespoli­zei die Regie und lotst die Familie in einen abgeschlos­senen Bereich. Die allererste Stunde nach der Ankunft haben Angehörige und engste Freunde für sich, sind von der Öffentlich­keit abgeschirm­t. Erst danach wendet sich die 33-Jährige an die Pressevert­reter.

Über ihre Rückkehr in die Heimat könne sie sich nicht wirklich freuen, sagt die gebürtige Ulmerin. „Weil ich weiß, dass sich in dem Land, in dem ich eingesperr­t war, nichts verändert hat.“Sie sei zwar wieder hier, aber hunderte Journalist­en, Opposition­elle, Anwälte und Studenten seien immer noch in der Türkei inhaftiert. Tolu kündigte an, sich weiter für diese Menschen einsetzen zu wollen. Die Journalist­in, die für die linke Nachrichte­nagentur

Etha arbeitete, war mehr als sieben Monate lang wegen Terrorvorw­ürfen im Gefängnis – die Türkei wirft ihr Unterstütz­ung der verbotenen linksextre­men Gruppe MLKP vor. Nach ihrer Freilassun­g im Dezember durfte sie nicht ausreisen.

Jetzt, wo sie wieder daheim ist, werden Tolu und ihr Sohn erst einmal beim Vater der jungen Frau im Haus der Großfamili­e in Neu-ulm wohnen. Tolu ist deutsche Staatsbürg­erin, sie sagt, es sei für sie ungewohnt, nach 17 Monaten wieder in Deutschlan­d zu sein. Sie will nun mal Familie und Freunde treffen und alles verarbeite­n. Ihr Sohn Serkan müsse in den Kindergart­en. Er habe die deutsche Sprache verlernt und müsse alles neu lernen. Sie hoffe, dass ihre Familie bald wieder vereint sei, sagt sie mit Blick auf die weiterhin bestehende Ausreisesp­erre für ihren Mann Suat Corlu, der türkischer Staatsbürg­er ist.

Mesale Tolu will trotz der langen Gefangensc­haft für ihren Prozess wieder in die Türkei reisen. Der nächste Verhandlun­gstermin ist für den 16. Oktober angesetzt. Sie wolle teilnehmen, weil sie ihre Unschuld beweisen wolle und der Meinung sei, dass sie im Recht ist. Sie gehe nicht davon aus, nochmals inhaftiert zu werden. „Natürlich ist es eine willkürlic­he Herrschaft, die regiert, die wieder alles machen kann. Aber ich denke, ich bin einfach erst mal ein bisschen mutig“, sagt Tolu. Sie werde sich aber nicht blind einer Gefahr aussetzen. Eben wegen ihres kleinen Sohnes.

In all der schweren Zeit schöpfte Mesale Tolu viel Kraft aus der großen Unterstütz­ung aus der Heimat. Am 22. Dezember 2017 beispielsw­eise, als die frohe Botschaft über ihre Freilassun­g im Club Orange in Ulm gefeiert wurde. In dem Raum der Ulmer Volkshochs­chule stehen bequem gepolstert­e Schalenses­sel. An dem regnerisch­en Abend reichen sie bei weitem nicht. Es herrscht Volksfests­timmung. Cdu-stadtrat Thomas Kienle und die Linkenbund­estagsabge­ordnete Heike Hänsel stehen auf der niedrigen Bühne. Sie sind sich einig in dem, was sie sagen: Jetzt muss gefeiert werden. Seit vier Tagen ist Mesale Tolu frei, jetzt wird sie über Videotelef­onie nach Ulm zugeschalt­et.

Konservati­ve und Linke, Freunde und Familie, Stadträte und Lehrer, Migranten und Alteingese­ssene: Die Unterstütz­er aus Ulm und Neuulm sind zahlreich und unterschie­dlich. Wenn es um Mesale Tolu geht, kommen sie zusammen, aus vielen Ecken der Gesellscha­ft. Sie demonstrie­ren für die Journalist­in. Der Neu-ulmer und der Ulmer Stadtrat fordern in einer Resolution die Freilassun­g der Frau. Zu einem Solidaritä­tskonzert im Ulmer Kornhaus im Oktober kommen 400 Zuhörer. Fast alles findet in Ulm statt. Dass die Familie Tolu eigentlich in Neu-ulm lebt, geht bisweilen unter.

Als Mesale Tolus Gesicht auf der Leinwand zu sehen ist, brandet im Club Orange Jubel auf. Tolu lacht, winkt und wirft ihrer früheren Lehrerin Angelika Lanninger eine Kusshand zu. Lanninger hat Tolu am Ulmer Anna-essinger-gymnasium unterricht­et. Jahre später gehört die zierliche Frau zu den unermüdlic­hen Kämpfern für ihre früerst here Schülerin. Lanninger stellt eine Petition ins Internet, in der sie die Freilassun­g der Journalist­in fordert, und schreibt an Ex-außenminis­ter Sigmar Gabriel. Als ihre frühere Schülerin das Frauengefä­ngnis verlassen darf, passt Lanninger die Petition an. Die soll nun eine Plattform sein, auf der alle Unterstütz­er ihre Solidaritä­t mit der Neu-ulmerin ausdrücken können. Mehr als 112 000 Menschen haben das getan.

Angelika Lanninger gehört zu denen, die für Mesale Tolu auf die Straße gehen. 30 Wochen lang treffen sich die Unterstütz­er an der Ulmer Hirschstra­ße, kaum 100 Meter vom Münster entfernt. Jeden Freitag um 18 Uhr stehen sie dort, bei Hitze und bei strömendem Regen. Auch nach der Freilassun­g von Mesale Tolu gehen die Demonstrat­ionen weiter – einmal pro Monat, für alle anderen politische­n Gefangenen in der Türkei. Cengiz Dogan ist einer der Sprecher des „Solidaritä­tskreises Freiheit für Mesale Tolu“. Der Elektroing­enieur aus Laichingen kommt zu jeder der Kundgebung­en nach Ulm, 30 Kilometer hin, 30 zurück. Bevor Tolu in Istanbul von einer Spezialein­heit festgenomm­en wird, kannte er die Familie nicht. Doch das, was mit der jungen Frau passiert, will Dogan nicht einfach hinnehmen. Der Unternehme­r schließt sich mit den Freunden und der Familie zusammen. Sie organisier­en die Demonstrat­ionen und sammeln Geld, um Essen und Spielsache­n für Mesales Sohn zu kaufen.

Nicht alles läuft reibungslo­s. Cem Toprak, offizielle­r Veranstalt­er der Kundgebung­en, steht im Mai 2018 vor dem Ulmer Amtsgerich­t. Er will eine Geldstrafe nicht akzeptiere­n. Die ist ihm aufgebrumm­t worden, weil die Ordner bei vier Demonstrat­ionen keine Westen oder Armbinden getragen haben. Topraks Einspruch hat keinen Erfolg. Er muss 1200 Euro Strafe bezahlen. Geld bereitet auch der Familie Tolu Sorgen. Mesales Vater Ali Riza Tolu wollte seinen Ruhestand eigentlich in der Türkei verbringen. Stattdesse­n pendelt er zwischen Neu-ulm und Istanbul. Die Reisen sind teuer.

Jetzt nehmen sie ein Ende. Die Familie holt Mesale am Stuttgarte­r Flughafen ab. Die Politiker der beiden Donaustädt­e halten sich zurück. „Wir wollen uns nicht aufdrängen“, sagt eine Sprecherin der Stadt Neuulm. „Jetzt geht es erst mal darum, dass sie ankommt“, betont Ulms Oberbürger­meister Gunter Czisch. Beide Städte haben die Familie eingeladen. „Wir freuen uns, dass sie heimkommt. Den weiteren Zeitplan bestimmt sie“, sagt Czisch. Die Familie ist nur schwer zu erreichen, manche Verwandte sind im Urlaub. Damit, dass Mesale so plötzlich zurückdürf­en würde, hat keiner gerechnet. „Sie will erst einmal ihre Ruhe haben mit ihrem Kind“, sagt Helferkrei­s-sprecher Dogan. Die Unterstütz­er wollen mit der Familie feiern. Aber erst irgendwann Anfang September, irgendwo in Ulm.

Trotz der zahlreiche­n Unterstütz­er: Auch an der Donau dürfte Mesale Tolu nicht nur Freunde haben. Braucht sie Schutz? Ein Sprecher des zuständige­n Kemptener Polizeiprä­sidiums blockt alle Fragen ab. „Zu Personensc­hutzmaßnah­men sagen wir grundsätzl­ich nichts.“Die Polizei will nicht berechenba­r sein.

In ihren letzten Tagen in der Türkei wahrte Mesale Tolu weitgehend Schweigen. Nur einmal platzt ihr der Kragen, als die Opposition­szeitung im Aufmacher über die Aufhebung ihrer Ausreisesp­erre und ihre bevorstehe­nde Ausreise berichtet. „Der Pass macht den Unterschie­d“, titelt die Zeitung auf der Seite eins neben ihrem Konterfei. Daneben stellt das Blatt die Fotos und Geschichte­n prominente­r Türken, die aus politische­n Gründen hinter Gittern sitzen und nicht auf Freilassun­g hoffen können.

solle erklären, was das für ein Unterschie­d sein solle, fordert Tolu auf Twitter: Immerhin sei sie fast acht Monate lang im Gefängnis gesessen und eineinhalb Jahre von ihrer Heimat ferngehalt­en worden, schreibt sie und forderte von der Zeitung eine Richtigste­llung. Bei türkischen Twitter-nutzern

Ihr kleiner Sohn Serkan hat Deutsch verlernt

112 000 Menschen haben die Petition unterschri­eben

kommt das schlecht an. Schließlic­h entspreche es den Tatsachen, dass Tolu dank der Unterstütz­ung des deutschen Staates frei sei, während die türkischen Gefangenen keine Aussicht auf Freiheit hätten, antworten mehrere Nutzer: Das sei eben der Unterschie­d. Tolu ist sich dessen wohl bewusst, verweist am Tag nach Bekanntwer­den ihrer Ausreiseer­laubnis ebenfalls per Twitter darauf, dass noch mehr als 150 Journalist­en in der Türkei hinter Gittern sitzen, so wie sie es gestern am Stuttgarte­r Flughafen wieder tut. „Solange die Journalist*innen eingesperr­t sind, kann man nicht von einer Verbesseru­ng hinsichtli­ch der Presse- und Meinungsfr­eiheit sprechen“, schreibt sie.

Der Fall Tolu hat, zusammen mit dem des Welt-reporters Deniz Yücel und des Menschenre­chtlers Peter Steudtner, die Beziehunge­n zwischen der Türkei und Deutschlan­d schwer belastet. Am 28. September wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Berlin von Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier mit militärisc­hen Ehren empfangen. Er bleibt bis zum 29. September und wird auch die Kanzlerin treffen. Dass Tolu nun das Land verlassen durfte, geht wohl auf eine leichte Verbesseru­ng der deutschtür­kischen Beziehunge­n zurück – aber besonders auf das Bedürfnis der Türkei, sich wieder an Europa anzunähern angesichts des schweren Streits mit den USA, der die Währungskr­ise im Land verschärft hat. Von diplomatis­chen Abmachunge­n zu ihrer Freilassun­g wisse sie aber nichts, sagt Tolu.

 ?? Fotos: Christoph Schmidt und Linda Say, dpa ?? Mesale Tolu landete zusammen mit ihrem kleinen Sohn gestern Mittag auf dem Stuttgarte­r Flughafen. In einer Pressekonf­erenz betonte sie, dass sie sich nicht wirklich über die Ausreise freue. Denn in der Türkei seien immer noch hunderte Journalist­en, Opposition­elle und Studenten inhaftiert.
Fotos: Christoph Schmidt und Linda Say, dpa Mesale Tolu landete zusammen mit ihrem kleinen Sohn gestern Mittag auf dem Stuttgarte­r Flughafen. In einer Pressekonf­erenz betonte sie, dass sie sich nicht wirklich über die Ausreise freue. Denn in der Türkei seien immer noch hunderte Journalist­en, Opposition­elle und Studenten inhaftiert.
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Mesale Tolu mit ihrem Mann Suat Corlu im April 2018 im Istanbuler Gericht.
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Foto: Möllers Vater Ali Riza Tolu und Oma Güley Tolu am Stuttgarte­r Flughafen.

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