Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wieder daheim
Anklage Die Ulmer Journalistin Mesale Tolu ist mit ihrem dreijährigen Sohn zurück in Deutschland. Sieben Monate war sie in der Türkei im Gefängnis. Jetzt durfte sie das Land überraschend verlassen, obwohl gegen sie noch ein Terrorprozess läuft. Warum sie
Stuttgart Mit versteinerter Miene und fester Stimme berichtet die Ulmer Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu nach ihrer Landung auf dem Stuttgarter Flughafen von einer monatelangen Tortur in der Türkei. Wie türkische Polizisten in einer Nacht im April 2017 ihre Wohnung schwer bewaffnet gestürmt hätten. Wie sie gewaltsam zu Boden gedrückt, bedroht und beschimpft wurde. Wie eine Waffe auf ihren kleinen Sohn gerichtet war. Wie ihr in der anschließenden Untersuchungshaft der Zugang zu konsularischer Betreuung verwehrt wurde.
Mesale Tolu nennt all das, was ihr widerfahren ist, eine „Kette der Ungerechtigkeit“. Die Terrorvorwürfe gegen sie hätten sich die türkischen Behörden aus den Fingern gesogen. Ihr Sohn Serkan, der inzwischen fast vier Jahre alt ist, lebte wochenlang gemeinsam mit ihr im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtviertel Bakirköy. Als Spielzeug hatte er nur einen kleinen, blauen Plastikball – mehr wurde ihm nicht erlaubt.
Gestern um 13.23 Uhr landete die Maschine aus Istanbul mit Mesale Tolu an Bord auf dem Stuttgarter Flughafen. Im Terminal 3 haben sich Kamerateams aufgebaut, wollen die ersten Umarmungen, Tränen, Freudenstrahlen einfangen. Auch Tolus Vater, Ali Riza Tolu, ist gekommen. Er hat sich um seine Tochter und den Enkel gekümmert, ist monatelang energisch und wortgewaltig aufgetreten. „Ein großer Tag“, freut er sich. Der Bruder ist da, die Schwester, die hoch betagte Großmutter Güley. Sie möchten die Schwester, die Enkelin begrüßen. Doch jetzt übernimmt die Bundespolizei die Regie und lotst die Familie in einen abgeschlossenen Bereich. Die allererste Stunde nach der Ankunft haben Angehörige und engste Freunde für sich, sind von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Erst danach wendet sich die 33-Jährige an die Pressevertreter.
Über ihre Rückkehr in die Heimat könne sie sich nicht wirklich freuen, sagt die gebürtige Ulmerin. „Weil ich weiß, dass sich in dem Land, in dem ich eingesperrt war, nichts verändert hat.“Sie sei zwar wieder hier, aber hunderte Journalisten, Oppositionelle, Anwälte und Studenten seien immer noch in der Türkei inhaftiert. Tolu kündigte an, sich weiter für diese Menschen einsetzen zu wollen. Die Journalistin, die für die linke Nachrichtenagentur
Etha arbeitete, war mehr als sieben Monate lang wegen Terrorvorwürfen im Gefängnis – die Türkei wirft ihr Unterstützung der verbotenen linksextremen Gruppe MLKP vor. Nach ihrer Freilassung im Dezember durfte sie nicht ausreisen.
Jetzt, wo sie wieder daheim ist, werden Tolu und ihr Sohn erst einmal beim Vater der jungen Frau im Haus der Großfamilie in Neu-ulm wohnen. Tolu ist deutsche Staatsbürgerin, sie sagt, es sei für sie ungewohnt, nach 17 Monaten wieder in Deutschland zu sein. Sie will nun mal Familie und Freunde treffen und alles verarbeiten. Ihr Sohn Serkan müsse in den Kindergarten. Er habe die deutsche Sprache verlernt und müsse alles neu lernen. Sie hoffe, dass ihre Familie bald wieder vereint sei, sagt sie mit Blick auf die weiterhin bestehende Ausreisesperre für ihren Mann Suat Corlu, der türkischer Staatsbürger ist.
Mesale Tolu will trotz der langen Gefangenschaft für ihren Prozess wieder in die Türkei reisen. Der nächste Verhandlungstermin ist für den 16. Oktober angesetzt. Sie wolle teilnehmen, weil sie ihre Unschuld beweisen wolle und der Meinung sei, dass sie im Recht ist. Sie gehe nicht davon aus, nochmals inhaftiert zu werden. „Natürlich ist es eine willkürliche Herrschaft, die regiert, die wieder alles machen kann. Aber ich denke, ich bin einfach erst mal ein bisschen mutig“, sagt Tolu. Sie werde sich aber nicht blind einer Gefahr aussetzen. Eben wegen ihres kleinen Sohnes.
In all der schweren Zeit schöpfte Mesale Tolu viel Kraft aus der großen Unterstützung aus der Heimat. Am 22. Dezember 2017 beispielsweise, als die frohe Botschaft über ihre Freilassung im Club Orange in Ulm gefeiert wurde. In dem Raum der Ulmer Volkshochschule stehen bequem gepolsterte Schalensessel. An dem regnerischen Abend reichen sie bei weitem nicht. Es herrscht Volksfeststimmung. Cdu-stadtrat Thomas Kienle und die Linkenbundestagsabgeordnete Heike Hänsel stehen auf der niedrigen Bühne. Sie sind sich einig in dem, was sie sagen: Jetzt muss gefeiert werden. Seit vier Tagen ist Mesale Tolu frei, jetzt wird sie über Videotelefonie nach Ulm zugeschaltet.
Konservative und Linke, Freunde und Familie, Stadträte und Lehrer, Migranten und Alteingesessene: Die Unterstützer aus Ulm und Neuulm sind zahlreich und unterschiedlich. Wenn es um Mesale Tolu geht, kommen sie zusammen, aus vielen Ecken der Gesellschaft. Sie demonstrieren für die Journalistin. Der Neu-ulmer und der Ulmer Stadtrat fordern in einer Resolution die Freilassung der Frau. Zu einem Solidaritätskonzert im Ulmer Kornhaus im Oktober kommen 400 Zuhörer. Fast alles findet in Ulm statt. Dass die Familie Tolu eigentlich in Neu-ulm lebt, geht bisweilen unter.
Als Mesale Tolus Gesicht auf der Leinwand zu sehen ist, brandet im Club Orange Jubel auf. Tolu lacht, winkt und wirft ihrer früheren Lehrerin Angelika Lanninger eine Kusshand zu. Lanninger hat Tolu am Ulmer Anna-essinger-gymnasium unterrichtet. Jahre später gehört die zierliche Frau zu den unermüdlichen Kämpfern für ihre früerst here Schülerin. Lanninger stellt eine Petition ins Internet, in der sie die Freilassung der Journalistin fordert, und schreibt an Ex-außenminister Sigmar Gabriel. Als ihre frühere Schülerin das Frauengefängnis verlassen darf, passt Lanninger die Petition an. Die soll nun eine Plattform sein, auf der alle Unterstützer ihre Solidarität mit der Neu-ulmerin ausdrücken können. Mehr als 112 000 Menschen haben das getan.
Angelika Lanninger gehört zu denen, die für Mesale Tolu auf die Straße gehen. 30 Wochen lang treffen sich die Unterstützer an der Ulmer Hirschstraße, kaum 100 Meter vom Münster entfernt. Jeden Freitag um 18 Uhr stehen sie dort, bei Hitze und bei strömendem Regen. Auch nach der Freilassung von Mesale Tolu gehen die Demonstrationen weiter – einmal pro Monat, für alle anderen politischen Gefangenen in der Türkei. Cengiz Dogan ist einer der Sprecher des „Solidaritätskreises Freiheit für Mesale Tolu“. Der Elektroingenieur aus Laichingen kommt zu jeder der Kundgebungen nach Ulm, 30 Kilometer hin, 30 zurück. Bevor Tolu in Istanbul von einer Spezialeinheit festgenommen wird, kannte er die Familie nicht. Doch das, was mit der jungen Frau passiert, will Dogan nicht einfach hinnehmen. Der Unternehmer schließt sich mit den Freunden und der Familie zusammen. Sie organisieren die Demonstrationen und sammeln Geld, um Essen und Spielsachen für Mesales Sohn zu kaufen.
Nicht alles läuft reibungslos. Cem Toprak, offizieller Veranstalter der Kundgebungen, steht im Mai 2018 vor dem Ulmer Amtsgericht. Er will eine Geldstrafe nicht akzeptieren. Die ist ihm aufgebrummt worden, weil die Ordner bei vier Demonstrationen keine Westen oder Armbinden getragen haben. Topraks Einspruch hat keinen Erfolg. Er muss 1200 Euro Strafe bezahlen. Geld bereitet auch der Familie Tolu Sorgen. Mesales Vater Ali Riza Tolu wollte seinen Ruhestand eigentlich in der Türkei verbringen. Stattdessen pendelt er zwischen Neu-ulm und Istanbul. Die Reisen sind teuer.
Jetzt nehmen sie ein Ende. Die Familie holt Mesale am Stuttgarter Flughafen ab. Die Politiker der beiden Donaustädte halten sich zurück. „Wir wollen uns nicht aufdrängen“, sagt eine Sprecherin der Stadt Neuulm. „Jetzt geht es erst mal darum, dass sie ankommt“, betont Ulms Oberbürgermeister Gunter Czisch. Beide Städte haben die Familie eingeladen. „Wir freuen uns, dass sie heimkommt. Den weiteren Zeitplan bestimmt sie“, sagt Czisch. Die Familie ist nur schwer zu erreichen, manche Verwandte sind im Urlaub. Damit, dass Mesale so plötzlich zurückdürfen würde, hat keiner gerechnet. „Sie will erst einmal ihre Ruhe haben mit ihrem Kind“, sagt Helferkreis-sprecher Dogan. Die Unterstützer wollen mit der Familie feiern. Aber erst irgendwann Anfang September, irgendwo in Ulm.
Trotz der zahlreichen Unterstützer: Auch an der Donau dürfte Mesale Tolu nicht nur Freunde haben. Braucht sie Schutz? Ein Sprecher des zuständigen Kemptener Polizeipräsidiums blockt alle Fragen ab. „Zu Personenschutzmaßnahmen sagen wir grundsätzlich nichts.“Die Polizei will nicht berechenbar sein.
In ihren letzten Tagen in der Türkei wahrte Mesale Tolu weitgehend Schweigen. Nur einmal platzt ihr der Kragen, als die Oppositionszeitung im Aufmacher über die Aufhebung ihrer Ausreisesperre und ihre bevorstehende Ausreise berichtet. „Der Pass macht den Unterschied“, titelt die Zeitung auf der Seite eins neben ihrem Konterfei. Daneben stellt das Blatt die Fotos und Geschichten prominenter Türken, die aus politischen Gründen hinter Gittern sitzen und nicht auf Freilassung hoffen können.
solle erklären, was das für ein Unterschied sein solle, fordert Tolu auf Twitter: Immerhin sei sie fast acht Monate lang im Gefängnis gesessen und eineinhalb Jahre von ihrer Heimat ferngehalten worden, schreibt sie und forderte von der Zeitung eine Richtigstellung. Bei türkischen Twitter-nutzern
Ihr kleiner Sohn Serkan hat Deutsch verlernt
112 000 Menschen haben die Petition unterschrieben
kommt das schlecht an. Schließlich entspreche es den Tatsachen, dass Tolu dank der Unterstützung des deutschen Staates frei sei, während die türkischen Gefangenen keine Aussicht auf Freiheit hätten, antworten mehrere Nutzer: Das sei eben der Unterschied. Tolu ist sich dessen wohl bewusst, verweist am Tag nach Bekanntwerden ihrer Ausreiseerlaubnis ebenfalls per Twitter darauf, dass noch mehr als 150 Journalisten in der Türkei hinter Gittern sitzen, so wie sie es gestern am Stuttgarter Flughafen wieder tut. „Solange die Journalist*innen eingesperrt sind, kann man nicht von einer Verbesserung hinsichtlich der Presse- und Meinungsfreiheit sprechen“, schreibt sie.
Der Fall Tolu hat, zusammen mit dem des Welt-reporters Deniz Yücel und des Menschenrechtlers Peter Steudtner, die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland schwer belastet. Am 28. September wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Berlin von Bundespräsident Frank-walter Steinmeier mit militärischen Ehren empfangen. Er bleibt bis zum 29. September und wird auch die Kanzlerin treffen. Dass Tolu nun das Land verlassen durfte, geht wohl auf eine leichte Verbesserung der deutschtürkischen Beziehungen zurück – aber besonders auf das Bedürfnis der Türkei, sich wieder an Europa anzunähern angesichts des schweren Streits mit den USA, der die Währungskrise im Land verschärft hat. Von diplomatischen Abmachungen zu ihrer Freilassung wisse sie aber nichts, sagt Tolu.