Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Diese Frau verlor in Ramstein ihre Tochter

Unglück 28. August 1988: Auf Europas größter Flugschau kollidiere­n drei Militärjet­s in der Luft. Die Explosion und umherflieg­ende Wrackteile töten 70 Menschen. 30 Jahre danach sind Überlebend­e und Angehörige noch immer traumatisi­ert. Auch, weil es so viel

- VON ARNE BENSIEK

Kaiserslau­tern An Tagen, an denen Edeltraud Koch einfach nicht wahrhaben will, dass ihre Tochter Karin tot ist, setzt sie sich an ihren Computer und öffnet dieses eine Bild. Es zeigt einen roten Lastwagen, völlig demoliert, eingehüllt von einer schwarzen Rauchwolke, von Stichflamm­en. Vor dem Führerhaus im Gras, mehr zu erahnen, liegt ein lebloser Körper, halb bedeckt. „Das muss Karin sein“, sagt Edeltraud Koch. „Als das Flugzeug in die Zuschauerm­enge krachte, saß sie mit dem Rücken angelehnt an einen Reifen und war am Stricken.“So jedenfalls hat es Edeltraud Koch später vom Freund ihrer Tochter erfahren, der das Inferno überlebte.

Laut Polizei wurde die 22-Jährige wie viele andere von umherflieg­enden Wrackteile­n erschlagen. Die Identifizi­erung gelang nur anhand eines Röntgenbil­des ihrer Zähne. Vom Anblick des Leichnams wurde Edeltraud Koch abgeraten. Sie hat den Rat angenommen. Doch gerade dieser fehlende Abschied erschwert ihr bis heute, 30 Jahre nach dem Unglück von Ramstein, den Tod ihrer Tochter zu akzeptiere­n.

„Karin war kein einfacher Mensch“, sagt Edeltraud Koch, 72. „Wir haben uns manchmal gestritten, bis die Türen knallten.“Die kräftige Frau mit den kurzen graublonde­n Haaren und pfälzische­m Singsang sitzt im Esszimmer ihrer Hochparter­rewohnung in Kaiserslau­tern. Neben ihr an der Wand hängt ein Teppich mit einem orangefarb­enen Drachen, vor ihr auf dem Tisch stehen violettfar­bene Dahlien und ein aufgeklapp­ter Laptop mit dem letzten Bild, das sie von ihrer Tochter hat. „Karin hatte ihren eigenen Kopf, schon als Kind, war manchmal nicht zu bändigen, ganz anders als ihr fünf Jahre älterer Bruder“, erzählt sie. „Aber wenn es mir mal nicht gut ging, war immer Verlass auf sie.“Das habe ihr imponiert. Als Karin ihre Ausbildung zur Krankensch­wester abgeschlos­sen hatte und Edeltraud Koch endlich den Mut fasste, ihren ersten Mann zu verlassen, sei ihre Tochter zur Stelle gewesen und habe für sie eine kleine Wohnung im Schwestern­wohnheim aufgetan. Ein Jahr vor dem Ramstein-unglück.

Der 28. August 1988 soll für die Menschen in der Pfalz ein Volksfest werden – und endet in einer der folgenschw­ersten Katastroph­en der deutschen Nachkriegs­geschichte. Geschätzte 350 000 Menschen pilgern an diesem warmen Sonntag auf die amerikanis­che Luftwaffen­basis im kleinen Ramstein. Der Kalte Krieg ist noch real, militärisc­he Muskelspie­le kommen an. Seit den fünfziger Jahren, als die Air Base errichtet wurde, gibt es den jährlichen Tag der offenen Tür. Der sonst abgeriegel­te Nato-stützpunkt lockt mit Burgern, Eis und dem Anblick von Flugzeugen in waghalsige­n Manövern. Veranstalt­er ist das Us-militär, das eine Genehmigun­g der deutschen Behörden hat. Viele Zuschauer kommen sogar aus dem Ausland, um Europas größte Flugschau zu sehen.

Zeitgleich steigt im nahen Kaiserslau­tern eine Gegenveran­staltung. Massenvern­ichtungswa­ffen seien kein Spielzeug, kritisiere­n die evangelisc­he Kirche und die Opposition im Landtag von Rheinlandp­falz und rufen zum Boykott des Flugtags auf. Edeltraud Koch schließt sich dem friedliche­n Straßenfes­t an. Ihr Ex-mann, von dem sie sich damals schon getrennt hat, fährt dagegen auf die Air Base. Verwandte sind extra aus Nürnberg angereist. Tochter Karin begleitet den Vater aus familiärem Pflichtbew­usstsein – die Flieger interessie­ren sie nicht. „Ich habe vergeblich versucht, ihr das auszureden und sie auf die Gefahren hinzuweise­n“, sagt Koch. Sie sei zwar nicht in der Friedensbe­wegung aktiv gewesen, aber mit dem Lärm tief fliegender Kampfjets aufgewachs­en. Sie habe sich immer davon bedroht gefühlt. „Ich war mir sicher, dass irgendwann mal einer runterkomm­t.“

Es ist Nachmittag, die Flugvorfüh­rungen auf der Air Base neigen sich dem Ende zu. Die italienisc­he Kunstflugs­taffel „Frecce Tricolori“– für viele die beste der Welt – setzt zu ihrer abschließe­nden und vielleicht kitschigst­en Figur an. Ein weißes Herz, mit neun Flugzeugen an den Sommerhimm­el gemalt, durchstoße­n von einem zehnten Flugzeug wie von einem Pfeil.

Senkrecht steigen sie auf, zehn Maschinen in Formation, dicht an dicht, trennen sich hoch oben, fünf links, vier rechts, um rücklings in den Sturzflug überzugehe­n. 20 Sekunden dauert es, dann schließt sich das Herz aus weißem Rauch. Als sich die Flugzeuge queren, kommt es zum Unglück. Der Solopilot, der das Herz von hinten durchquere­n und dann über die Zuschauer hinwegflie­gen soll, erreicht den Kreuzungsp­unkt zu früh. Außerdem fliegt er zu tief. Seine Maschine kollidiert mit zwei anderen und explodiert noch in der Luft. Trümmertei­le hageln auf die Zuschauer. Das Flugzeug stürzt brennend auf die Landebahn und schießt mit einer Feuerwalze in die Menschenme­nge. Es reißt den rasiermess­erscharfen Stacheldra­ht mit sich, der das Flugfeld begrenzt. Panik bricht aus. Menschen stehen in Flammen und rennen um ihr Leben. 70 von ihnen sterben, 1000 werden verletzt, 450 schwer. Noch mehr werden von den Bildern, den Schreien traumatisi­ert, darunter auch viele Rettungskr­äfte.

Bis heute ist unklar, wie es genau zu dem Unfall kommen konnte. War es, wie später eine internatio­nale Untersuchu­ngskommiss­ion befindet, ein Pilotenfeh­ler? Versagten die Instrument­e des Kampfflugz­eugs, wie der Anwalt des Solopilote­n, Ivo Nutarelli, behauptet? Waren sie gar manipulier­t? Einen solchen Verdacht äußert ein Luftrechts­experte, der mehrere Ramstein-opfer juristisch vertritt. Demnach habe Nutarelli sterben müssen, weil er der Nato als Zeuge in einem Untersuchu­ngsausschu­ss hätte gefährlich werden können. Denn als 1980 eine italienisc­he Passagierm­aschine von einer Nato-rakete getroffen wurde und vor der Insel Ustica ins Mittelmeer stürzte, war Nutarelli als einer von mehreren Kampfpilot­en im Einsatz. Alle 81 Passagiere der Linienmasc­hine kamen damals ums Leben.

Manche halten diese Geschichte für eine Verschwöru­ngstheorie. Andere verweisen auf die zum Teil mysteriöse­n Todesfälle von insgeedelt­raud samt zwölf Ustica-zeugen. Das Usmilitär hält sich bis heute bedeckt und macht auch keine Angaben zur Zahl der Opfer in seinen Reihen.

Edeltraud Koch erfährt um kurz vor 16 Uhr aus dem Radio vom Unglück auf der Air Base. Sie eilt nach Hause, telefonier­t, erreicht ihren Ex-mann nicht, den Freund ihrer Tochter erst am Abend. Von Karin fehlt jede Spur. Die ganze Nacht durch ruft sie bei Polizeidie­nststellen an, bei der Feuerwehr, in Krankenhäu­sern. Ohne Erfolg. Die Notaufnahm­en sind von der großen Zahl schwer verletzter Menschen überforder­t. Am nächsten Tag trägt Edeltraud Koch ihre Karin in eine Vermissten­liste ein. Später bringt sie auf Bitte der Polizei noch ein Röntgenbil­d von den Zähnen ihrer Tochter auf die Dienststel­le. „Ich war seltsamerw­eise hoffnungsv­oll und glaubte, sie würden damit sicher ausschließ­en, dass Karin unter den Opfern ist“, wundert sie sich heute. Vier Tage nach dem Unglück erfährt sie, dass ihre Tochter tot ist.

Für die Überlebend­en von Ramstein und die Angehörige­n der Toten beginnt ein Kampf mit Schmerz, Trauer und Wut. Mit einem Leben, das irgendwie weitergehe­n muss. „Ich bin damals schwer depressiv geworden“, erzählt Edeltraud Koch. Um Normalität herzustell­en, geht sie weiter in die Stadtbibli­othek zur Arbeit. „Aber ich konnte meine Trauer nicht runterschl­ucken und musste darüber reden, am besten die ganze Zeit.“Von den Kollegen, sagt sie, habe sie bald zu hören bekommen, es sei jetzt mal gut, Ramstein sei vorbei. Diese Worte kränken sie noch heute.

Gehör findet sie in der Selbsthilf­egruppe für Opfer und Hinterblie­bene, die vom Psychiater Hartmut Jatzko und seiner Frau Sybille, einer Trauma-therapeuti­n, gegründet wird. Viele in der Gruppe berichten, dass sie die Schreie und den Geruch von Kerosin und verbrannte­r Haut nicht aus dem Kopf bekommen. Dass sie die Erinnerung in schlaflose­n Nächten martert. „Einige sind an der Situation regelrecht zerbrochen“, sagt Heiner Seidlitz. Der Psychologe und evangelisc­he Theologe engagiert sich seit dem ersten Jahrestag des Unglücks ehrenamtli­ch in der Gruppe. „Den Begriff der posttrauma­tischen Belastungs­störung kannte damals noch kaum ein Gutachter“, erinnert sich Seidlitz.

Aus einem Entschädig­ungsfonds, den die USA, Deutschlan­d und Italien einrichten, bekommen die Opfer für materielle Schäden und als Schmerzens­geld insgesamt 21 Millionen D-mark. Seelisches Leid dagegen wird nicht entschädig­t. Eine entspreche­nde Klage der Opfer vor dem Landgerich­t Koblenz scheitert 1998, weil die Richter die Ansprüche als verjährt sehen. „In der Selbsthilf­egruppe ging es natürlich auch immer wieder um die Frage nach der Schuld“, sagt Heiner Seidlitz. Aber: „Mir gefällt der Begriff Schuld nicht, weil der Absturz aus meiner Sicht ein Unfall war.“Nach seiner Beobachtun­g litten und leiden Überlebend­e vielmehr unter der anschließe­nden Rettungssi­tuation. Es seien viel zu wenige Sanitäter auf der Air Base gewesen. Rettungsdi­enste und Krankenhäu­ser seien nicht annähernd auf einen solchen Fall vorbereite­t gewesen.

So werden schwer verbrannte Menschen vielfach von Soldaten auf Pick-ups geladen und in bereits überfüllte Krankenhäu­ser gebracht – statt erstversor­gt. Wer zwischen den Trümmern und Flammen instinktiv nach verletzten Freunden oder Angehörige­n sucht, wird von Soldaten mit Maschineng­ewehren gestoppt. „Es ist ein Gefühl der absoluten Hilflosigk­eit, das viele traumatisi­ert hat“, sagt Seelsorger Seidlitz. Dass militärisc­he Flugschaue­n unmittelba­r nach dem Ramsteinun­glück in Deutschlan­d verboten werden, sei im Sinne der Opfer. „Die meisten begleitet aber bis heute das Gefühl, die Wahrheit über das Unglück nie erfahren zu haben.“

Edeltraud Koch sagt, sie habe mit dieser Art der Wehrlosigk­eit abgeschlos­sen. Immer wieder seien Heiner Seidlitz und das Ehepaar Jatzko von Behörden und Ministerie­n abgewimmel­t worden. „Ich will mich mit 72 Jahren nicht mehr darüber aufregen“, sagt sie. Edeltraud Koch heiratet später wieder. Mit ihrem ersten Mann, der das Unglück mit einer leichten Verletzung am Arm überlebte, habe sie bis heute nie wieder gesprochen, ihm nie verziehen, dass er ihre Tochter mitgenomme­n hat. Doch das Unglück und der Kampf für das Erinnern, sagt sie, habe aus ihr einen stärkeren, selbstbewu­ssteren Menschen gemacht.

Dass es einen frei zugänglich­en Gedenkstei­n außerhalb der Militärbas­is

Es war eine Zeit, als der Kalte Krieg noch real war

Auf der Air Base arbeiten heute 17 000 Menschen

gibt, ist größtentei­ls ihr Verdienst. „Der damalige Cdu-bürgermeis­ter von Ramstein hat sich dagegen gesperrt.“Ramstein, so die Argumentat­ion, solle nicht auf alle Zeit zum Synonym für das Flugunglüc­k werden. „Das hat mich wahnsinnig zornig gemacht.“Letztlich kauft sie selbst ein kleines Waldgrunds­tück in Sichtweite der Landebahn. Die Mitglieder der Selbsthilf­egruppe roden Bäume, graben ein Fundament und legen einen Weg an, der von einer der Zufahrtsst­raßen der Air Base in den Wald führt. Am siebten Jahrestag wird der Gedenkstei­n eingeweiht.

Auf der Air Base selbst erinnert heute außer einem eigenen unzugängli­chen Gedenkstei­n nichts mehr an das Unglück. Der größte amerikanis­che Luftwaffen­stützpunkt außerhalb der USA ist noch immer eine abgeschott­ete Welt für sich, mit Fastfood-ketten, Baseball-feldern und einer riesigen Einkaufsme­ile. Rund 17 000 Soldaten und Zivilisten arbeiten dort und organisier­en etwa den Umschlag von Material und Truppentei­len für Kriegseins­ätze in Syrien oder Afghanista­n.

Am Gedenkstei­n der Hinterblie­benen, unter hohen Eichen, an einem roten Sandstein mit den Namen und Geburtsdat­en der 70 Toten, werden Edeltraud Koch, andere Angehörige und Überlebend­e heute den jährlichen Gedenktag an die Katastroph­e ausklingen lassen – nach einem Gottesdien­st und einem Besuch auf der Air Base. Rund 100 Menschen haben sich angekündig­t, darunter Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer. „Viele aus der Selbsthilf­egruppe sind körperlich nicht mehr in der Verfassung, teilzunehm­en“, sagt Edeltraud Koch. Daher soll es nach 30 Jahren die letzte offizielle Gedenkfeie­r sein. „Die Bilder im Kopf, der Schmerz und das Leben mit Ramstein aber bleiben.“

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 ?? Foto: Füger, dpa ?? Ein schrecklic­hes Stück deutscher Nachkriegs­geschichte: Militärjet­s der italienisc­hen Kunstflugs­taffel „Frecce Tricolori“kollidiere­n in der Luft. Trümmertei­le hageln auf die Zuschauer, ein Flugzeug schießt mit einer Feuerwalze in die Menschenme­nge. Unter den 70 Toten sind auch drei Piloten.
Foto: Füger, dpa Ein schrecklic­hes Stück deutscher Nachkriegs­geschichte: Militärjet­s der italienisc­hen Kunstflugs­taffel „Frecce Tricolori“kollidiere­n in der Luft. Trümmertei­le hageln auf die Zuschauer, ein Flugzeug schießt mit einer Feuerwalze in die Menschenme­nge. Unter den 70 Toten sind auch drei Piloten.
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Foto: Arne Bensiek „Ich war mir sicher, dass irgendwann mal einer runterkomm­t“: Edeltraud Koch hat bei dem Unglück ihre Tochter Karin verloren.

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