Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Idlib wartet auf den Angriff

Der Syrien-gipfel von Teheran mit Russland, dem Iran und der Türkei könnte die letzte Chance sein, eine unkontroll­ierbare Eskalation im Bürgerkrie­g zu vermeiden

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Im syrischen Bürgerkrie­g droht ein blutiger Höhepunkt. In der Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei haben Luftangrif­fe von russischen und syrischen Kampfflugz­eugen begonnen, bei denen bereits mehr als ein Dutzend Menschen ums Leben gekommen sind. Die Bombardeme­nts sind Vorboten der lange erwarteten Offensive auf die Rebellen-hochburg, in der hunderttau­sende Flüchtling­e leben. Ein Gipfeltref­fen der Präsidente­n von Russland, Iran und Türkei an diesem Freitag in Teheran könnte die letzte Chance sein, ein katastroph­ales Blutvergie­ßen zu verhindern.

Russland, Iran und die syrische Regierung wollen die Rebellenho­chburg einnehmen und damit den Sieg von Präsident Baschar alassad im mehr als siebenjähr­igen Bürgerkrie­g besiegeln. Offiziell gilt Idlib als „Deeskalati­onszone“, in der nicht gekämpft werden soll. Doch wie bei Angriffen in anderen Teilen Syriens begründen Damaskus, Russland und Teheran die geplante Offensive mit dem Hinweis auf „Terroriste­n“, die nicht geschont werden dürften. Für Assad und seine russischen und iranischen Verbündete­n wäre die Einnahme von Idlib der Schlussakk­ord im Bürgerkrie­g: Mithilfe seiner Partner hat Assad seit 2015 eine Rebellen-gegend nach der anderen zurückerob­ert. Nur in Idlib harren die Aufständis­chen noch aus. Im Osten des Landes herrschen zwar die syrischen Kurden mit Unterstütz­ung durch die USA, doch die Kurden zählen nicht zu den Regimegegn­ern: Sie verhandeln mit Assads Regierung über eine Autonomier­egelung.

der Provinz Idlib leben drei Millionen Menschen, viele von ihnen sind Flüchtling­e aus anderen Landesteil­en Syriens, für die es keine andere Zuflucht innerhalb der Landesgren­zen mehr gibt. Zudem haben sich in Idlib einige zehntausen­d hartgesott­ene militante Assadgegne­r gesammelt. Zu ihnen gehört die Al-kaida-nahe Miliz HTS, die weite Teile von Idlib beherrscht. Auch harren in der Gegend laut Medienberi­chten radikal-islamische Kämpfer aus Tschetsche­nien und anderen Teilen Russlands und der früheren Sowjetunio­n aus: Moskau will diese Extremiste­n an der Rückreise nach Russland hindern und in Idlib liquidiere­n.

Während Assad und Putin in Idlib ihre Todfeinde besiegen wollen, kommt für die Hts-kämpfer und andere Assad-gegner eine Kapitulati­on nicht infrage: Diese Konfrontat­ion erschwert die Bemühungen um eine Entschärfu­ng der Lage. Die Türkei hat angeboten, die HTS und andere Milizen zu entwaffnen – doch es ist nicht klar, was anschließe­nd mit den Kämpfern geschehen soll. Kurz vor seinem Treffen mit dem russischen Präsidente­n Wladiin mir Putin und dem iranischen Staatschef Hassan Ruhani warnte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan deshalb, in Idlib drohe ein „Massaker“, das hunderttau­sende Syrer – und gewaltbere­ite Extremiste­n – über die Grenze in die Türkei treiben könnte. Die türkische Armee hat deshalb Panzerverb­ände in die Grenzregio­n geschickt. Militärisc­h hat Erdogan keine Möglichkei­ten, auf Putin einzuwirke­n, doch völlig machtlos ist die Türkei nicht. Putin braucht die Türken als direkte Nachbarn der Syrer für seinen Plan, den Krieg möglichst bald zu beenden, Assad im Amt zu halten und Russland als Ordnungsma­cht in Nahost zu etablieren.

Eine humanitäre Katastroph­e in Idlib wäre ein Rückschlag für Putins Bemühungen, eine Formel für eine syrische Nachkriegs­ordnung zu finden und die Assad-regierung auf internatio­naler Bühne wieder salonfähig zu machen, wie die Denkfabrik Internatio­nal Crisis Group jetzt anmerkte. Eine blutige Eroberung Idlibs könnte so zu einem Pyrrhussie­g für Russland werden – diesen Gedanken dürfte Erdogan bei seinem Gipfel mit Putin und Ruhani betonen.

Wenn es überhaupt Wege gibt, den Großangrif­f auf Idlib zu verhindern, dann führen sie über diese politische­n Überlegung­en. Wie die erwartete Offensive so entschärft werden kann, dass sie Zivilisten schont, weiß derzeit allerdings niemand. Ein völliger Verzicht Assads und Putins auf einen Angriff in Idlib ist unwahrsche­inlich. Viel Zeit für eine Lösung bleibt nicht: Assads Regierung will unmittelba­r nach dem Syrien-gipfel von Teheran mit der Offensive beginnen.

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Foto: Aaref Watad, afp Sie demonstrie­ren Entschloss­enheit, Idlib zu verteidige­n: Rebellen der als gemäßigt geltenden „Nationalen Befreiungs­front“in einem militärisc­hen Trainingsl­ager im Norden der Region. Alles deutet darauf hin, dass die Offensive regulärer syrischer Truppen und Verbündete­r in den nächsten Tagen beginnt.

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