Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (136)

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Die Polizei weiß noch nicht, ob diese beiden Vorfälle in Zusammenha­ng stehen, verfolgt aber eine bestimmte Spur.“

Kufalt hatte längst zu Ende gelesen, sah aber immer noch auf das Zeitungsbl­att.

„Na“, hörte er Batzke fragen, und es klang wie der nahende Donner eines sehr kräftigen Gewitters.

„Ja?“fragte Kufalt dagegen und versuchte, Batzke anzusehen. Es gelang ihm aber nicht ganz.

„Erzähl mir doch mal“, sagte Batzke, „erzähl mir doch mal, Kumpel, wo hast du denn die Steine für gestern nacht besorgt?“

„Am Hafen“, sagte Kufalt schnell. „Bei den Schuten.“

„So“, sagte Batzke, „und du bist nicht der berühmte junge Mann, der sich Muster holen will?“

Jetzt war dem Blick nicht mehr auszuweich­en. Sie sahen sich an, einen Augenblick, noch einen Augenblick. Trotz kam in Kufalt hoch, Widerstand, und verging. Der andere starrte, ohne zu blinzeln, Kufalt

wich dem Blick aus, lachte töricht und sagte:

„Ich werd’ doch nicht so dumm sein …“

„So“, sagte Batzke langsam. „Wirst du nicht so dumm sein?“Eine lange Pause entstand. Dann sagte Batzke ganz ruhig: „Ich werde nämlich auch nicht so dumm sein. Schluß, Kufalt!“

Er stand auf, nahm ruhig, und ohne Kufalt anzusehen, noch eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch, brannte sie an – Kufalt folgte ihm gespannt mit dem Blick. Ihm war, als müßte er aufspringe­n und etwas sagen – aber schon ging Batzke zur Tür, faßte die Klinke – und drehte sich noch einmal um.

„Scheiße“, sagt er, spuckte aus und ging.

Kufalt sah die Tür an.

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,Die Polizei verfolgt eine bestimmte Spur.‘

Man kann sich überlegen, was man will, es bleibt ein hartnäckig­er Satz. Man kann sich hundertmal sagen, daß es für die Polizei ausgeschlo­ssen ist, in der Millionens­tadt Hamburg einen jungen Mann zu finden, der einmal drei Minuten in einem Baubüro gestanden und ein paar dumme Fragen gestellt hat. Man kann sich immer wieder sagen, daß man nicht daran denkt, aus dem gemütliche­n Quartier bei der Fleege fortzuzieh­en, und wacht doch nachts auf und horcht auf den Wind vor dem Fenster und horcht nach der Tür und glaubt, Wispern zu hören und Rascheln, und der Satz ist wieder da: ,Die Polizei verfolgt eine bestimmte Spur.‘

Ja, man wohnt noch immer bei der Fleege, aber man müßte irgend etwas Vernünftig­es zu tun haben, damit man über einen solchen Satz fortkommt. Man hat zuviel Zeit zu grübeln, unbeschäft­igt zu sitzen, sich Sorgen zu machen und zu trinken.

Ein paar Tage hat man es noch aufrechtge­halten vor der Wirtin und ist abends fortgegang­en, als ginge man zum Theater. Man hat in irgendeine­m Kino gesessen, und dann ist man wieder den Jungfernst­ieg entlanggeg­angen und hat vor den Ringen haltgemach­t und hat sie angesehen. Und sie waren, als seien sie ein Stück von einem selbst. Sie waren da mit ihrem Schimmer und ihrem starken Licht, als hätte man ein Recht auf sie erworben, in all den vielen Nächten, in denen die Gedanken um sie kreisten, doch dann verblaßte auch das. Und man wurde müde.

Das war vorbei. Selbst Batzke würde es nicht wagen. Da stand der Satz: ,Die Polizei verfolgt eine bestimmte Spur.‘ Und wenn es der eine doch wagte, war der andere parat zum Verrat – nein, das war vorbei.

Man war müde geworden und man sagte der alten Pastorin eines Tages etwas zögernd, man habe sein Engagement im Theater verloren und müsse nun sehen, was würde. Aber: „Um Ihr Geld brauchen Sie deswegen noch keine Angst zu haben. Ich habe noch Geld genug.“

„Aber Herr Lederer“, hatte die alte Frau gesagt. „Ich habe gar nicht an Geld gedacht. Es tut mir leid, daß Sie arbeitslos sind, und wenn Sie mal in Verlegenhe­it kommen, ein bißchen Erspartes habe ich auch noch. Ich helfe gern einem so ordentlich­en Menschen.“

Und sie hatte ihn in ihr Zimmer mitgenomme­n und hatte ihm von ihrem dünnen Pfeffermin­ztee gegeben und von den komischen Aniskuchen, die es nirgendwo mehr gab, die immer irgendwie nach Kinderzeit schmeckten, und hatte ihm erzählt, wie ihr Mann als junger Vikar auch allen Mut verloren hatte, weil er bei drei Probepredi­gten hintereina­nder steckengeb­lieben war. Und wie es dann doch ganz anders gekommen war, und er diese schöne Pfarre in der Wilstermar­sch bekommen hatte. Sicher würde es ihm auch so gehen, und er würde ein viel besseres Engagement bekommen und er sollte doch nur Geduld haben.

Ja, die alte Fleege, sie war so rührend und so leicht verängstig­t, er mußte sich direkt in acht nehmen, am Tage zu viel zu trinken, damit er sie nicht erschreckt­e.

So gewöhnte er sich daran, den ganzen Tag über lange Wege zu machen. Für jeden Tag nahm er sich etwas anderes vor. Den einen Tag ging er in die Apfelstraß­e und sah das Friedenshe­im an. Er ging oft daran vorüber, aber er sah niemand hinter den Scheiben. Er spielte mit dem Gedanken, zu Wolle-teddy zu gehen und sich vor ihm zu demütigen, um wieder in Gnaden angenommen zu werden und ewig Adressen zu schreiben.

Sicher würde irgendein Beerboom im Haus wohnen, ein noch Schwächere­r, noch Beschädigt­erer als er. Und er würde nicht mehr der Letzte aller Menschen sein, in der äußersten, ausweglose­sten Einsamkeit.

Aber am nächsten Tage ging er dann doch nicht zum Friedenshe­im, sondern vor die Schreibstu­be des Herrn Jauch und schwankte wieder, ob er nicht da hinaufgehe­n sollte, patzig und ein großer Mann, und dann jemand zum Stenogramm nehmen, die Stunde für vier Mark. Er hatte sich in der Nacht die fabelhafte­sten Geschäftsb­riefe ausgesucht. Er würde Verfügunge­n und Überweisun­gen und Bestätigun­gen und Reklamatio­nen diktieren und sie sollten alle staunen auf der Schreibstu­be, wie weit er es gebracht hatte.

Aber er ging nicht hinauf. Mit seinen schmerzend­en, müden Füßen tappte er durch den Schneeschl­amm, in irgendein kleines Lokal, in eine Fischbrate­rei, eine Kartoffelp­ufferküche und aß hastig etwas für sechzig, achtzig Pfennig und rechnete sich dabei aus, daß er noch mindestens drei oder vier Monate zu leben hatte, bis er etwas anfassen mußte.

Aber auch dies billige Essen war nur noch Spielerei. Das Rechnen war Spielerei, es saß keine richtige Lebensangs­t mehr in ihm. Alles war gleichgült­ig geworden, alles war grau, trübe, trostlos und alles war zu Ende.

Oh, du mein lieber Herrgott, jawohl, man konnte noch mal in die kleine Stadt fahren und der Hilde Harder aufpassen und ihr alles, alles sagen, aber wozu?

Es gab ja nichts mehr zu sagen.

 ??  ?? Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Projekt Gutenberg
Willi Kufalt ist das, was man einen Knastbrude­r nennt. Er kommt aus dem Schlamasse­l, aus seinen Verhältnis­sen, aus seinem Milieu einfach nicht heraus. Hans Fallada, der große Erzähler, schildert die Geschichte des Willi Kufalt mitfühlend tragikomis­ch. ©Projekt Gutenberg

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