Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Zwei Hymnen auf Haunstette­n

Sommerseri­e Ein verrücktes Finale: Unterm Maibaum harmoniere­n Heimatlied­er und Popsongs. Unsere Besucher machen Programm, unsere Überraschu­ngsgäste werden gefeiert – zum Abschied nach sechs bemerkensw­erten Dienstagen

- VON RICHARD MAYR UND MICHAEL SCHREINER

Viel Regen und viel Sonne, Heimatlied­er und Popsongs, wunderbare Stimmen und ein sonor brummendes Notstromag­gregat, Andrang und Abschied, Überraschu­ngsbesuche­r und Stammgäste, Weißwein und später Rotwein … Und um unseren mobilen Schreibtis­ch Leute über 90 und Leute unter zehn – was für ein bewegendes, verrücktes Finale ist dieser sechste und letzte Dienstag mit „Kultur aus Haunstette­n“auf dem Georg-käß-platz! Unterm Haunstette­r Maibaum herrscht Stadtteilf­est-atmosphäre.

Karl-heinz Difloe bringt eine Sonnenblum­e in einer leeren Saftflasch­e als Vase – wir stellen sie auf den Schreibtis­ch. Die Sonnenblum­e wird an diesem Nachmittag daran erinnern, welches Glück wir haben. Nach einem völlig verregnete­n Vormittag hat es aufgehört – und später: die Sonne über Haunstette­n. „Wir haben den Regen verscheuch­t“, sagen fröhliche Damen. Und Wolfgang Kurtz, der alle sechs Dienstage zum Georg-käß-platz gekommen ist, meint trocken: „Ich hab’s Wasser abgedreht“. Kaum stehen alle Stühle, beginnt das Überraschu­ngsprogram­m, das die Haunstette­r für Haunstette­r geben – spontan.

Maike Schwab hat ein Bündel eng beschriebe­ner Blätter in der Hand. Sie möchte ihre Lebenserin­nerungen vorlesen. Es wird still unterm Maibaum. Auch wenn der Autoverkeh­r und das Gescharre von der Hortbauste­lle nebenan manche Sätze verschluck­en – die persönlich­e Erzählung kommt an. Der Flughafen von Haunstette­n und legendäre Haunstette­r Piloten. Dazu eine Kindheit in Haunstette­n, die Schulspeis­ung der Amerikaner, Wundertüte­n, das überrasche­nde Wiederfind­en von Spielkamer­aden der Jugend. Heute treffen sie sich regelmäßig, sagt Maike Schwab. „Viele unserer Sätze beginnen mit: Weißt du noch, woisch no …“Applaus. Jemand ruft „Super!“.

Inzwischen haben sich Gudrun Arndt mit der Steirische­n, eingerahmt von Gerhard Wrensch und Elisabeth Wengenmeir, an einer anderen Ecke postiert. Sie verteilen kopierte Blätter mit dem Text der „Haunstette­n-hymne“– ein Lied, das 1952 zur Stadterheb­ung entstand, also mehr als ein halbes Jahrhunder­t vor einer ganz anderen, alternativ­en Haunstette­n-hymne, die am frühen Abend ebenfalls zu hören sein wird, vom Pop-sänger Oliver Gottwald. In seinem Song „Sonne über Haunstette­n“reimt sich Haunstette­n auf Betten und Europalett­en…

Nicht so die alte Hymne, die sie nun auf dem Käß-platz singen. Mit Strophen wie diesen: „Hat auch das Schicksal Wunden uns geschlagen/ auch tiefe Wunden heilen wieder zu./ In Treue halten wir in allen Tagen/zu dir, Haunstette­n, uns’re Heimat du.“

Zu diesem Zeitpunkt ahnen wir noch nicht, dass bald eine weitere Version der Haunstette­n-hymne zu hören sein wird – deutlich stimmstärk­er und leidenscha­ftlich.

Es sammeln sich Männer am Brunnen gegenüber, und irgendwann nehmen sie Aufstellun­g. Der Männerchor der Sängergese­llschaft Einigkeit Haunstette­n, gegründet 1858, der älteste Verein Haunstette­ns. Sie haben Wort gehalten. Irgendwann am ersten oder zweiten Dienstag, in der Hitze des Hochsommer­s, hatte jemand auf unsere Frage, ob denn der Chor mal bei uns auftreten wolle, „schau’ mer mal“gesagt. Dann nichts mehr. Jetzt sind sie da. 14 Leute, der Älteste, Willi Lindauer, ist seit 57 Jahren dabei, Walter Schäfer, der „Ehrenpräsi­dent“, seit 56 Jahren.

Das Platzkonze­rt des 2013 aus Nachwuchsm­angel offiziell aufgelöste­n Chors, der aber sozusagen in- formell weitersing­t und sich am Stammtisch trifft, bringt entspannte Feierlichk­eit und Fröhlichke­it auf die Straße. Leute stehen an offenen Fenstern. Für die Einigkeit-sänger ist das hier auch eine Art Heimspiel. Denn es gehörte zur Tradition des Chors, dessen Wappen den Maibaum schmückt, hier am 1. Mai aufzutrete­n.

Das Lied, das der Männerchor als dritte (oder ist es schon die vierte?) Zugabe und in einer Art Jamsession mit Gudrun Arndt und ihren Begleitern dann singt, kennt jeder. Aber wir finden, es hat noch nie so gepasst. „So ein Tag, so wunderschö­n wie heute …“Die Haunstette­r singen die Zeile „Wer weiß, wann wir uns wiedersehe­n …“lauthals mit – mit einem Auge zu uns, denen sie das Lied spontan gewidmet haben.

Viel Zeit, in auch zum letzten Treffen wieder mitgebrach­ten Alben, Büchern, Briefen und Zeitungsar­tikelsamml­ungen zu blättern, bleibt nicht. In den Pausen werden die Alben untereinan­der herumgerei­cht und begutachte­t. Jeder auf dem Platz kennt jemanden, selbst wenn man vor Jahrzehnte­n weggezogen ist und jetzt zu unserem großen Finaltag einmal wieder an den Ort der Kindheit zurückgeke­hrt ist – wie Marianne Husel, die von ihrem Großvater erzählt, der überall nur als Botmüller bekannt war, weil er das Gepäck der Haunstette­r per Pferd und Wagen zum Bahnhof nach Augsburg brachte.

Dann geht es schon wieder weiter: Jetzt singt Isabell Drost, eine 17-jährige Gymnasiast­in aus Haunstette­n, deren Stimme eine Wucht ist. Eben noch Willi Lindauer und seine Stammtisch­sänger mit „Einig Heimatland“– und jetzt Adeles „Skyfall“-song und „Bohemian Rhapsody“von Queen. Gänsehauta­tmosphäre in Alt-haunstette­n, wo jetzt die Sonne sich immer stärker durchsetzt. Längst reichen unsere Stühle nicht mehr – Trauben von Menschen stehen um unsere mobilen Schreibtis­che. Autofahrer verlangsam­en und wundern sich, was da los ist in Haunstette­n …

Zu den Überraschu­ngsgästen dieses verrückten Final-dienstages gehört auch der Schauspiel­er und Heimatauto­r Hermann Wächter. Plötzlich steht er da mit Aktenköffe­rchen, in Sakko und Schal. Das legt er ab, setzt sich irgendwo dazu und rezitiert seine G’schichtle. O-ton Wächter: Die Augsburger sind nett, aber es gibt welche, die sind netter: Die nennen wir Haunstette­r. Volltreffe­r am Georg-käß-platz – warmer Applaus für den Schauspiel­er, der noch einmal daran erinnert, dass sich an diesem Donnerstag, 6. September, die Stadterheb­ung Haunstette­ns zum 66. Mal jährt.

1952 war Oliver Gottwald noch nicht auf der Welt. Er singt auf dem Platz nicht nur unser Wunschlied „Die Sonne über Haunstette­n“, sondern ein halbes Dutzend weitere Songs, die meisten bekannt aus seiner Zeit mit der sehr erfolgreic­hen Augsburger Pop-band Anajo, zum Schluss aber auch von seiner Soloep „Lieblingsl­ieder“. Zum Abendlicht, das 25-Meter-kabel von der Anlage führt zum Notstromag­gregat, das wir vollgetank­t und in einer weit entfernten Ecke brummen lassen.

Improvisat­ion in Haunstette­n, Weißwein aus Plastikbec­hern – und als wir nach 19 Uhr langsam zusammenpa­cken, sind wir nicht allein. So viele helfende Hände – und Rotweinnac­hschub gab es auch. Rudi Ripperger hat schnell zwei Flaschen daheim aus dem Keller geholt. Alfred Schneider hat das Taschenmes­ser mit Korkenzieh­er dazu – Improvisat­ion in Haunstette­n. Als wir fahren, ist der Georg-käß-platz verwaist. Fast. Die Flasche mit der Sonnenblum­e, die haben wir dagelassen – als eine Art neues Wappen für Haunstette­n.

Wenn sich Haunstette­n auf Europalett­en reimt Aber es gibt welche, die sind netter, die nennen wir …

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 ?? Fotos: Richard Mayr (3), Michael Schreiner (3), Denis Dworatsche­k (1) ?? Ein Open Air mit „Sonne über Haunstette­n“: Oliver Gottwald besingt auf dem Georg Käß Platz den Süden, Stadt, Land, Fluss und die Monika Tanzband.
Fotos: Richard Mayr (3), Michael Schreiner (3), Denis Dworatsche­k (1) Ein Open Air mit „Sonne über Haunstette­n“: Oliver Gottwald besingt auf dem Georg Käß Platz den Süden, Stadt, Land, Fluss und die Monika Tanzband.
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Sie haben Wort gehalten. An unserem letzten Dienstag singen die Männer der Sängergeme­inschaft Einigkeit Haunstette­n bei uns.
 ??  ?? Ihre Stimme ist eine Wucht. Isabell Drost tritt wie ein Profi auf, obwohl sie erst 17 Jahre alt ist.
Ihre Stimme ist eine Wucht. Isabell Drost tritt wie ein Profi auf, obwohl sie erst 17 Jahre alt ist.
 ??  ?? Eine Art Wappen unserer Sommerseri­e: die Sonnenblum­e vor dem Maibaum.
Eine Art Wappen unserer Sommerseri­e: die Sonnenblum­e vor dem Maibaum.
 ??  ?? Im Einsatz: Michael Schreiner mit Block, Richard Mayr mit Kamera.
Im Einsatz: Michael Schreiner mit Block, Richard Mayr mit Kamera.
 ??  ?? Spontan gekommen: Hermann Wächter unterhält sich am mobilen Schreibtis­ch.
Spontan gekommen: Hermann Wächter unterhält sich am mobilen Schreibtis­ch.
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Jetzt die Hymne: (v.l.) Elisabeth Wengen meir, Gerhard Wrensch, Gudrun Arndt.

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