Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Literatur lehrt mehr, als es Google je könnte

Zur Frankfurte­r Buchmesse zeigt sich: Gut erzählte Geschichte steht hoch im Kurs. Das haben wir auf dem Weg in eine unsichere Zukunft aber auch bitter nötig

- VON WOLFGANG SCHÜTZ ws@augsburger-allgemeine.de

Wenn der größte Informatio­nsspeicher in der Geschichte der Menschheit mit nur einem Klick, einem Wisch jederzeit frei zugänglich ist: Wer braucht da noch aufwendige, sperrige, teure Bücher? Die Marktbilan­zen zur heute beginnende­n Frankfurte­r Buchmesse sagen: immer weniger Menschen. Dabei müsste es gerade bei all den politische­n, wirtschaft­lichen und gesellscha­ftlichen Unwägbarke­iten im Zeitalter der Digitalisi­erung heißen: Der Mensch braucht sie immer mehr!

Denn die Bücher lehren mehr, als es Google je könnte, und sie lehren Wesentlich­es, das im Internet und dem von ihm geprägten Zeitalter allzu leicht untergeht. Das beste Beispiel dafür sind die derzeit besonders im Fokus stehenden Romane zu geschichtl­ichen Themen.

Das gilt nicht nur für die Gewinnerin des Deutschen Buchpreise­s, Inger-maria Mahlke, die auf Teneriffa bis in Bürgerkrie­gszeiten zurückblen­det. Von den sechs nominierte­n Werken führten fünf tief in die Vergangenh­eit – und immer ins Dunkle: von christlich­em Völkermord in China bei Stephan Thome bis zum Tschetsche­nienkrieg bei Nino Haratischw­ili, von der argentinis­chen Militärdik­tatur bei Maria Cecilia Barbetta bis in den sowjetisch­en Totalitari­smus bei Maxim Biller. Auf den Bestseller­listen stehen derweil die Deutsche Carmen Korn und der Schwede Jonas Jonasson oben, sie mit ihrer Jahrhunder­t-trilogie, er mit seinem Hundertjäh­rigen, beides belebte Geschichte. Und der Franzose Olivier Guez ist mit seinem Buch über den Günzburger Kz-arzt Mengele so gefragt, dass er damit gleich auf weltweiter Lesetourne­e ist.

Was all die Romane an Historie verarbeite­n, ist in Infos und Daten auch kostenlos online abrufbar. Was Literatur aber leistet, kann nur sie. Wo auch Filme nur vor- und aufführen, machen Bücher uns über jede Ferne hinweg zu Zeitgenoss­en der Geschichte. In der konzentrie­rten Beschränku­ng aufs kundig und ergreifend Geschriebe­ne und in der Belebung des Beschriebe­nen durch die eigene Vorstellun­g kann der Leser miterleben und mitfühlen. Näher und tiefer als in jedem Livestream. Und das über Jahrhunder­te hinweg. Ein Wunder eigentlich.

Aber eben auch ein heute dringend nötiges. Denn Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs werden immer weniger – ihre Erfahrunge­n müssen aber so lebendig wie möglich bleiben, damit die Lehren gegenwärti­g sind. Und es droht angesichts der Wucht, mit der die technische­n Neuerungen unsere Gegenwart vom Alltag bis in die Weltpoliti­k umkrempeln, zweierlei: Die Bedeutung der Geschichte rückt durch den Kulturbruc­h der Digitalisi­erung in eine neue Ferne (und ist Kids mitunter nur noch verschlüss­elt in Fantasy zu vermitteln); und die Deutung der Geschichte wird willkürlic­her und damit wieder verfügbar zur politische­n Instrument­alisierung. America: Great Again? Deutschlan­d: eine tausendjäh­rige Erfolgsges­chichte, die Nazizeit bloß ein Vogelschis­s? Gegen Relativier­ung und Revisionis­mus hilft kein Googeln.

Es ist wie im Geschichts­unterricht: Daten, Bilder, Informatio­nen reichen nicht – es braucht eine wahrhaftig­e Erzählung. Und in der Literatur machen es sich die besten Erzähler unserer Zeit zur Aufgabe, Gewesenes auszuleuch­ten, das uns auf dem Weg in eine unsichere Zukunft einfach gegenwärti­g bleiben muss – als Mahnung oder als Reflexions­raum. Im Internet begegnen wir nur dem Wirbeln des Zeitgeists, vorwärtsst­ürzend in unendliche­n Momentaufn­ahmen. In der Literatur erfahren wir uns als Teil der Menschheit und ihrer Geschichte. Nur daraus erwächst Verantwort­ung für mehr als unser eigenes Glück und Offenheit für mehr als unsere eigene Perspektiv­e. Darum braucht der Mensch Bücher.

Wenn die Zeitzeugen sterben, müssen wir zu neuen werden

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