Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Krieg begleitet ihn bis heute
Vor 70 Jahren kam Konrad Holzmann aus der französischen Kriegsgefangenschaft nach Hause. Mit gerade 16 Jahren hatte er seinen Einsatzalarm erhalten – über drei Jahre später kehrte er nach Augsburg zurück
Konrad Holzmann war 16 Jahre, als er im März 1945 seinen Einberufungsbescheid zum Reichsarbeitsdienst (RAD) erhielt. Er befand sich zu der Zeit in einem Kinderlandverschickungsheim in Heimenkirch im Allgäu. Aber da machte das Naziregime schon keinen Unterschied mehr zwischen Mann/frau und Kind. Die Empathielosigkeit und Menschenverachtung dieses Regimes schallte am 20. April 1945 noch einmal lautstark aus einem Volksempfänger: „...und wenn wir die letzte Frau und das letzte Kind opfern müssen, der Sieg wird auf unserer Seite sein!“Konrad Holzmann war bereits im Rad-einsatz in Bregenz und musste, wie alle anderen, dieser Rede des Reichspropaganda-ministers Joseph Goebbels im Speisesaal des Rad-lagers 6/331 zuhören.
Holzmann sagte, wohl nicht leise genug: „Dieser Sieg nützt uns auch nichts mehr!“Ein Feldmeister, der die Bemerkung des 16-Jährigen hörte, notierte seine Personalien und drohte unverzüglich mit dem Kriegsgericht. Zwei Tage danach erhielt Holzmann seinen Einsatzalarm und entging diesem willkürlichen Tribunal. Wie brutal es durchgeführt wurde, sah Konrad Holzmann nur wenig später auf seinem langen Weg in die Ungewissheit.
Einsatzalarm oder Kriegsgericht: Pest oder Cholera, Glück oder Unglück? Die Zeit des Zweiten Weltkrieges bot keinen Platz für Menschlichkeit. Kleinigkeiten entschieden über Leben oder Tod. Der Zufall senkte den Daumen oder nicht. „Der Einsatzalarm ging nach Riefensberg im Vorarlberg, wo wir im nackten Fels Schützengräben ausheben und den Vormarsch der französischen Truppen stoppen sollten“, sagt Holzmann.
Die militärisch unausgebildeten Männer hatten zudem die absurde Aufgabe, Hitlers letzte Zuflucht, die Alpenfestung, abzusichern. „Nur jeder Dritte von uns hatte einen alten Karabiner aus dem Ersten Weltkrieg und es gab eine Kiste mit verrosteten Panzerfäusten“, sagt Holzmann. Am 30. April machten sich die Vorgesetzten der jungen Radmänner aus dem Staub.
An dem Tag hatte sich Adolf Hitler per Selbstmord aus der Verantwortung gestohlen. Es war die Zeit der Feiglinge. Was aus den jungen Männern wurde, interessierte die Vorgesetzten nicht.
Für Konrad Holzmann aus dem Meister-veits-gässchen 27 in Augsburg, begann nun eine lange Odyssee, außerhalb jeder sozialen Ordnung. Mit fünf Kameraden versuchte er zu Fuß Richtung Augsburg zu kommen.
Am 1. Mai 1945, der Krieg sollte noch eine Woche dauern, gerieten die sechs auf schwer bewaffnete, ehemalige Lager-häftlinge. Nachdem die Häftlinge ihnen alle Wertsachen abgenommen hatten, wollten sie die jungen Männer erschießen, als ein Fahrzeug mit französischen Soldaten kam.
Die ehemaligen Lager-insassen flohen und Holzmann und seine Kameraden blieben am Leben. Da es im Krieg um nichts anderes als ums Überleben geht, kann man von Glück sprechen, obwohl nun die französische Kriegsgefangenschaft drohte. Auf ihrem zehntägigen Fußmarsch, fast ohne Verpflegung und unter freiem Himmel schlafend, kamen sie in Lindau an.
Als ihr Gefangenentrupp Tage vorher durch Heimenkirch marschierte, sah Holzmann seinen damaligen Schul-professor mit seiner Frau auf dem Balkon des „Gasthof zur Sonne“stehen. Er rief ihm zu, seine Eltern zu verständigen, dass er nun in Kriegsgefangenschaft kommt. „Es war eine dringliche Bitte von mir“, sagt Holzmann, „meine Eltern wussten doch nicht, wo ich bin, ob ich noch lebe.“
Als sie weitermarschierten, sahen sie von fanatischen Nazis grausam aufgehängte, junge Soldaten, die nicht mehr an den Endsieg geglaubt hatten, tot an den Straßenbäumen. Das Land der Dichter und Denker hatte sich in zwölf Jahren in einen Barbarenstaat verwandelt, so Holzmann. Von Lindau ging es mit Lastwagen und dem Zug nach Frankreich. Holzmann durchlief dort fünf Gefangenenlager und kam immer weiter Richtung Westen. Zum Schluss nach Nantes. Viel zu weit, um aus einem Lager zu fliehen, zumal die Franzosen Kopfgelder auf entflohene Gefangene ausgesetzt hatten. Schließlich wurde er durch sein Geschick Zivilarbeiter auf dem Bauernhof der Familie Laurant und Marie Vaillant, die ungeachtet seiner Herkunft ein herzliches Verhältnis zu ihm entwickelten.
Am 13. Oktober 1948 erfolgte der große Abschied von der Familie Laurant, vom Straßenwärter Grandhomme und sogar vom Bürgermeister. Ein junger Deutscher, unfreiwillig in den Krieg geworfen, überlebte fünf grässliche Lager und schaffte es mit Mut, Menschlichkeit und Fleiß bis in die Herzen der französischen Kriegsgegner. Die Ankunft in Augsburg fiel nüchterner aus.
Die Menschen hatten wenig Sinn für traumatische Schicksale und handelten, wohl auch aus Selbstschutz, rein bürokratisch. Das Gymnasium St. Stephan lehnte eine erneute Aufnahme des Schülers Holzmann schroff ab, weil St. Stephan nun keine Oberrealschule, sondern ein humanistisches Gymnasium war. Und auch der Schul-professor vom Balkon des „Gasthof zur Sonne“hatte 1945 keine Menschlichkeit gezeigt und die Eltern des vorbeiziehenden Gefangenen nicht informiert.
Mit der Familie Vaillant aber ist er bis heute befreundet. Am 23. Oktober wird Konrad Holzmann 90 Jahre. Er hat alle seine Widersacher – bei bester Gesundheit – überlebt.