Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Im freien Fall ins Chaos?

In dieser Woche könnte sich entscheide­n, wie die Briten sich aus der EU verabschie­den. Von einer verträglic­hen Lösung sind beide Seiten weit entfernt. Das hat viel mit den Hardlinern auf der Insel und einem besonderen Landesteil zu tun

- VON KATRIN PRIBYL UND DETLEF DREWES

Brüssel Es könnte eine Schicksals­stunde für die EU werden, wenn sich die Eu-staats- und Regierungs­chefs am Mittwoch in Brüssel zu Beratungen über den Brexit treffen. Fast eineinhalb Jahre wird der Austritt Großbritan­niens aus der Gemeinscha­ft nun schon verhandelt. Und doch hakt es weiter.

Warum ist der Gipfel so wichtig?

Der Austrittsv­ertrag sollte diese Woche eigentlich fertig sein. Denn er muss noch vom Europäisch­en und den nationalen Parlamente­n ratifizier­t werden. Dafür bleibt bis zum Austrittst­ermin am 29. März 2019 immer weniger Zeit.

Kann man den Austritt nicht einfach verschiebe­n?

Nein, das Verfahren nach Artikel 50 der Europäisch­en Verträge legt fest, dass die Kündigung der Mitgliedsc­haft zwei Jahre nach Einreichen des Antrags automatisc­h in Kraft tritt.

Deal, No Deal, harter und weicher Brexit – was hat es damit auf sich?

Unter einem Deal verstehen die Verhandler einen Austrittsv­ertrag sowie eine „politische Erklärung“mit Eckpunkten über das künftige Verhältnis zwischen London und Brüssel, das in der Übergangsp­hase konkret festgelegt werden soll – unter welchen Auflagen beispielsw­eise Großbritan­nien Zutritt zum Binnenmark­t hat oder wie andere Eugesetze (zum Beispiel Telefonier­en ohne Roaminggeb­ühren) demnächst geregelt sind. Premiermin­isterin May hat mehrfach den klaren Bruch mit Brüssel versproche­n und den Verbleib in Zollunion und gemeinsame­m Binnenmark­t ausgeschlo­ssen. Es wäre ein harter Brexit. Bei einem von Eu-freunden bevorzugte­n weichen Brexit würde das Königreich ähnlich enge Anbindung an die EU suchen wie Norwegen inklusive vollem Zugang zum Binnenmark­t und fortdauern­der Personenfr­eizügigkei­t. Bei einem No-deal-szenario handelt es sich um einen ungeordnet­en Austritt, der für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s drastische Folgen hätte.

Welche Folgen hätte ein harter Bruch für Deutschlan­d?

Das bilaterale Außenhande­lsvolumen beträgt rund 120 Milliarden Euro pro Jahr, das sind 1,4 Prozent deutschen Wirtschaft­sleistung. Ohne einen geregelten Austritt wäre das also auch für die hiesige Wirtschaft ein herber Rückschlag.

Und welche Konsequenz­en gäbe es für die britische Wirtschaft?

Die Unternehme­n hadern seit dem Referendum mit der verbreitet­en Unsicherhe­it und warnen vor einem ungeregelt­en Austritt. So stagnieren Investitio­nen, weil noch nicht klar ist, wie das künftige Verhältnis des Königreich­es zur Gemeinscha­ft aussieht. Zwar hat sich mittlerwei­le heeine rausgestel­lt, dass Ökonomen die kurzfristi­gen negativen Folgen des Brexit-votums überschätz­t hatten. Doch die Wirtschaft wächst deutlich schwächer.

Es heißt, dass rund 90 Prozent aller strittigen Themen geklärt sind.

Bei zwei sehr wichtigen Themen hat man tatsächlic­h eine Übereinkun­ft erreicht. Zum einen hat London akzeptiert, dass es für eingegange­ne Verpflicht­ungen noch rund 100 Milliarden Euro an Brüssel überweisen muss. Zum anderen wurden Regeder lungen für alle jene Eu-bürger gefunden, die schon lange auf der Insel leben und arbeiten beziehungs­weise für die Briten in einem Eu-land. Sie dürfen bleiben, können auch Familien nachholen und müssen nicht befürchten, von heute auf morgen das Land verlassen zu müssen.

In welchen Fragen ist man sich weiter uneinig?

Offen ist die Frage, welches Gericht in Streitfäll­en zuständig ist. Eine Lösung könnte folgendes Modell sein: Ein Richter der EU sowie ein britischer Kollege berufen einen dritten neutralen Juristen und bilden ein besonderes Schiedsger­icht.

Was ist mit der Nordirland-frage?

Das ist ein Kernproble­m. Nordirland als Teil des Vereinigte­n Königreich­s verlässt die EU. Das Karfreitag­sabkommen von 1998 verbietet aber eine harte Grenze zu Irland. London und Brüssel sind sich einig, dass sie den Friedenspr­ozess nicht gefährden wollen. Die EU und May haben eine Lösung ausgehande­lt, nach der Nordirland zunächst Teil der Zollunion mit der Gemeinscha­ft und als eine Art Sonderzone im Euregelwer­k bliebe, bis eine bessere Lösung gefunden wird.

Wo liegt das Problem?

Sowohl die harten Brexit-befürworte­r in Mays Partei als auch die nordirisch­e Unionisten­partei DUP lehnen dies ab. Die konservati­ve Regierung braucht jedoch die Stimmen der DUP, die gegen jede Extrabehan­dlung Nordirland­s ist. Als Kompromiss war im Gespräch, dass das gesamte Land vorübergeh­end in einer Zollunion verbleiben und Nordirland zudem weiterhin am Eu-binnenmark­t für Güter teilnehmen könnte. Doch niemand weiß, ob Premiermin­isterin May diese Variante durch das Parlament bekommt. Derzeit gibt es für keinen der Vorschläge eine Mehrheit.

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Stolze britische Fahnen wehen über einem Souvenirst­and in London. Wegen des bevorstehe­nden Brexit ist das Land in diesen Tagen mehr denn je zerrissen. Es droht sogar ein gewaltiger Absturz.
Foto: Michael Kappeler, dpa Stolze britische Fahnen wehen über einem Souvenirst­and in London. Wegen des bevorstehe­nden Brexit ist das Land in diesen Tagen mehr denn je zerrissen. Es droht sogar ein gewaltiger Absturz.

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