Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Meditieren kann sogar heilsam sein
Ein Redakteur sucht Ruhe, Teil 4
Seiler schon neunzig Patienten mit der Methode operiert. Angesichts der kleinen Teilnehmerzahl in Cobbs Studie weigerte er sich, dessen Ergebnis Glauben zu schenken. Zudem, sagt Seiler, werde die Heilkraft der arteriellen „Kurzschlüsse“(also der Umgehungsgassen) völlig unterschätzt. Ähnlich wie bei der Mammaria interna ließen sich diese auch an anderen Stellen im Körper nutzen, um den Patienten größere Eingriffe oder Infarkte zu ersparen.
Seiler gilt als Experte für ein Forschungsgebiet, das in einem von gewinnbringenden Operationen mit Stents (also Gefäßstützen zum Offenhalten von verstopften Arterien) dominierten Fach eher ein Schattendasein führt: die Wissenschaft der Kurzschlüsse und Querverbindungen der Herzarterien, der Kollateralen, wie sie der Fachmann nennt.
Der 61-Jährige wunderte sich schon Anfang der 1990er Jahre, dass eine bis dahin geltende medizinische Regel bei seinen Forschungen nicht aufzugehen schien: Ende des 19. Jahrhunderts hatte der deutsche Pathologe Julius Cohnheim blumig den Grundsatz von der „letzten Wiese“formuliert. Herz und Hirn, sagte er, sind durchzogen von sogenannten Endarterien, die ganz auf sich allein gestellt ein eigenes Gebiet versorgen. Haben Kalk oder Blutgerinnsel diese Gefäße verschlossen, ist das entsprechende Gewebe rettungslos verloren. „Das wurde immer so in den Raum gestellt“, sagt Seiler, wirklich überprüft hätte Cohnheims Thesen jedoch niemand.
Bei Hunden, wunderte sich der Berner, war aber das Gegenteil der Fall. Ihr Herz war durchflochten von Adern, die diese angeblich letzten Wiesen zu zweit oder gar zu dritt mit Blut versorgten. Warum sollte das beim Menschen anders sein, fragte er sich. In der Zwischenzeit konnte er beweisen: Wenn der Mensch im Labor kräftig in die Pedale eines Fahrradtrainers tritt, beginnen sich in seinem Herzen plötzlich Gefäße zu öffnen, die vorher in einer Art Dornröschenschlaf lagen. Diese Kollateralen helfen, den härter arbeitenden Muskel mit Blut zu versorgen. Selbst wenn man eine kurz verschließt, kommt hinter der Abdichtung noch Blut an – weil es durch diese Umgehungsgefäße um das Hindernis herum fließt.
Sind bei einer Herzkrankheit die Adern chronisch verengt, beginnen diese Kollateralen sogar zu wachsen, erklärt sein Kollege Ivo Buschmann, Klinikdirektor am Deutschen Angiologie-zentrum Brandenburg. Bei manchen Patienten gehe das sogar so weit, dass sie von übelsten Verschlüssen gar nichts spüren. Auch in Studien wurde inzwischen belegt: Gute natürliche Bypässe lindern nicht nur die Symptome, sie senken auch das Sterberisiko um bis zu vierzig Prozent. Und selbst bei einem akuten Infarkt, wenn dem Gefäß eigentlich keine Zeit bleibt, neue Kollateralen zu bilden, ersticken bei bereits ausgebildeten Querverbindungen weniger Herzmuskelzellen.
In der Nervenheilkunde hat die Entdeckung der Kollateralen einst das ganze Fachgebiet umgekrempelt: Noch Ende der 1970er Jahre, berichtet Hermann Zeumer, der frühere Direktor der Klinik für Neuroradiologie der Hamburger Uni-klinik, wurde in Patienten mit schweren Schlaganfällen nicht mehr viel Mühe investiert. Spätestens nach fünf Minuten ohne Blutversorgung, meinte man, sind bei einem solchen Infarkt im Kopf die Nervenzellen rettungslos verloren. Irgendwann stellte man aber fest: Das Hirn war gar nicht auf einen Schlag tot. „Das war nur auf eine Art zu erklären“, erinnert sich Zeumer. „Es musste Kollateralen geben, die in der Lage waren, das Randgebiet des Infarkts weiter mit Sauerstoff zu versorgen.“Inzwischen nutzt man die gewonnene Zeit, um in speziellen Stroke Units oder im Katheterlabor die verstopfenden Blutgerinnsel mit Medikamenten oder Kathetern zu entfernen.
Nicht alle Menschen aber, sagt Elisabeth Deindl von der Ludwigmaximilians-universität München, würden im gleichen Ausmaß Umgehungskreisläufe bilden. Das hat genetische Gründe. Auch deshalb hat sich die Biologin auf die Suche nach Wirkstoffen gemacht, die das Wachstum der Kollateralen künstlich anregen. Bei Mäusen hat sich das Verfahren schon bewährt. Auf die Frage, ob Ähnliches beim Menschen gelingen könnte, reagiert sie nur verhalten optimistisch. Der Grund: Die Entzündungszellen fördern nicht nur die Kollateralenbildung, sie heizen womöglich auch umgekehrt die Atherosklerose an. Beide Prozesse sind eng miteinander verwandt.
Es gibt auch weniger riskante Hoffnungsträger: Vor zwei Jahren konnten Leipziger Wissenschaftler belegen, dass sich mit zwei bis zweieinhalb Stunden täglichem Ausdauertraining der Kollateralfluss am Herzen fast verdoppeln lässt. Regelkoronararterie mäßiges Joggen, Walken, Radfahren und Schwimmen, das zeigen auch andere Arbeiten, führt zu einem Ausbau der Umgehungsverbindungen.
Für weniger aktive Zeitgenossen entwickelte Ivo Buschmann an der Berliner Charité die sogenannte Herzhose. Sie besteht aus Luftkissen um Gesäß, Waden und Oberschenkel, die sich im Herzrhythmus blitzschnell aufblasen. Und drücken dann das Blut aus den Beinen zusätzlich Richtung Herz zurück. Weil dies zu einem verstärkten Fluss in den Kranzgefäßen führt, erklärt der Mediziner, werde dort der wichtigste Reiz für den Ausbau des Kollateralsystems gesetzt: ein starker reißender Strom entlang der Arterienwände. Der Beweis, dass die Herzhose wirklich Infarkte verhindert, steht aber noch aus.
In Bern versucht unterdessen Christian Seiler, die Medizingeschichte noch einmal umzuschreiben: Auch er wird demnächst fünfzig Patienten zum Schein operieren und vergleichen, ob die echte Ligatur fünfzig Leidensgenossen besser bekommt. Kollateralen retten Menschenleben, das ist gesichert. Offen ist nur noch die Frage, wie man ihnen am besten auf die Sprünge hilft.
Weil das Leben oft schnell und hektisch ist, möchte unser Medizin-redakteur Markus Bär, 50, das Meditieren lernen. Er hat in Kaufbeuren einen Kurs belegt. In dieser Kolumne berichtet er über seine Erfahrungen.
Nun sind es schon vier Wochen, die ich mit dem Thema Meditation zubringe. (Beinahe) täglich schaffe ich es, die elfminütige Atemmeditation oder gar die 44-minütige Reise durch den Körper („Bodyscan“) zu absolvieren. Um nur zwei Übungen zu nennen, es gibt ja noch mehrere. Puh. Ganz schön anstrengend, das in den Alltag zu integrieren. Da könnte unser Meditationslehrer Thomas Flott allerdings nur lachen: „Nicht umsonst meditieren beispielsweise buddhistische Mönche in Asien über Jahrzehnte hinweg täglich viele Stunden“, meint er. „Der Dalai Lama sagte einmal sinngemäß: Wenn es einen medizinischen Weg dazu gäbe, sozusagen von jetzt auf gleich in den Zustand langjähriger Meditation zu gelangen, – ich würde ihn sofort gehen.“
Uff. Und ich bin erst lumpige vier Wochen unterwegs. Mein Lehrer Thomas Flott immerhin schon sieben Jahre. Er bezeichnet sich dennoch bescheiden als „Anfänger“. Warum sollte man diesen schwierigen Weg überhaupt beschreiten? Ruhe kann man auch finden, indem man in die Sauna geht und sich hinterher nach der Hitze matt und zufrieden auf seiner Liege ablegt. Zum Beispiel. Andere finden innere Ruhe im Biergarten, auf Berggipfeln oder in Einkaufszentren. Meditation kann viel mehr. Etwa: heilsam sein.
Weil das Leben im 21. Jahrhundert bei vielen Dauerstress erzeugt, wird aus punktuellen Sorgen und Ängsten, die an sich berechtigt sein können, dauerhafte Spannung und Angst. Der Psychotherapeut weiß, dass daraus die sogenannte generalisierte Angst werden kann. Irrationale Angst vor allen möglichen Dingen, die eigentlich gar nicht gefährlich sind. Zudem wird man über Gebühr gestresst. „Manch einer rastet schon innerlich aus, wenn beim Meditieren in der Nachbarschaft ein Traktor vorbeifährt“, sagt Thomas Flott. „Durch die Meditation wird diese niedrige Schwelle stark angehoben.“
Das kann den Menschen stärken, ihn gegebenenfalls sogar heilen. Beispiel: der Einsatz der Meditation in der Tinnitusbehandlung. In der Bluthochdrucktherapie. Bei Magengeschwüren. Manchmal als begleitendes Verfahren, zusätzlich zu Medikamenten. Manchmal kann Meditation aber so stark wirken, dass die Mittel nicht mehr eingenommen werden müssen. Wen es näher interessiert: Die Meditationsweise, die ich in diesem Kurs erlerne, ist die „achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“.
Au ja: Ich will die Schwelle, bei der ich genervt bin, anheben. Das klingt gut. Aber der Weg in diesen Himmel ist steinig, wie Thomas Flott sagt. Der Weg in die „Hölle“hingegen, meint er, geht ganz schnell. „Der ist eine Autobahn.“Das ist okay für mich. Das Fahren auf der Autobahn ist bekanntlich auf die Dauer ziemlich langweilig.
Medizinische Regeln werden auf den Kopf gestellt
Foto: pa, obs, Amgen Gmbh, oh
Medizingeschichte soll umgeschrieben werden