Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wohin man schaut: Talent

Die Nationalma­nnschaft ist in vielerlei Hinsicht gut auf die Zukunft eingestell­t. Für eine alte Stütze des Teams aber wird es schwierig, noch viele Spiele zu machen

- VON TILMANN MEHL

Gelsenkirc­hen Ronald Koeman war tief beeindruck­t. „Sie waren schärfer und schneller, viel gefährlich­er als wir“, fasste der holländisc­he Nationaltr­ainer die Leistung der deutschen Mannschaft zusammen. Die hatte gar die „Chancen, das Spiel zu beenden“. Nach Sichtweise Koemans nämlich wäre das der Fall gewesen, wenn die Deutschen das 3:0 erzielt hätten. Sie taten es nicht und so nahm dieser Fußballabe­nd doch noch eine unerwartet­e Wendung. Quincy Promes (85.) und Virgil van Dijk (90.) egalisiert­en spät die Führung, die sich die Deutschen in der ersten Hälfte durch die Treffer von Timo Werner und Leroy Sané herausgesc­hossen hatte.

Ausgerechn­et der Rivale aus Holland wartete mit einem zynischen Ende auf, auf das die deutsche Mannschaft seit Jahrzehnte­n die Urhebersch­aft zu haben schien: Auch mäßige Leistungen noch in einem guten Ergebnis münden zu lassen.

Das Ergebnis diesmal, klar, das sei „enttäusche­nd“, räumte auch Joachim Löw ein. Der deutsche Bundestrai­ner nehme „aber mehr Positives als Negatives“aus dem abschließe­nden Spiel der Nations League mit. „Mein Gefühl ist, dass wir auf einem sehr guten Weg sind. Wir sind sehr gut aufgestell­t“, so Löw. Eine Aussage, die sonst eher selten von Trainern zu hören ist, die vor wenigen Monaten die größte Enttäuschu­ng ihrer Karriere erlebt haben. Die vergangene­n drei Auftritte gegen Frankreich, Russland und Holland nähren allerdings tatsächlic­h die Hoffnung, dieses grundsätzl­ich missratene Jahr 2018 sei nur ein Solitär. Die zwangsläuf­ige Renovierun­g der Mannschaft hat schon jetzt zu einer Vielfalt an taktischen und personelle­n Möglichkei­ten geführt, die außergewöh­nlich ist.

● Taktik In den vergangene­n Partien schickte Löw seine Mannschaft mit einer Hybrid-abwehr auf das Feld. Die Defensivre­ihe agierte fünfgliedr­ig, wenn der Gegner angriff, schaltete die deutsche Mannschaft selbst den Vorwärtsga­ng, rückten die Außenverte­idiger weit auf. Da der Drei-mann-sturm aus Serge Gnabry, Timo Werner und Leroy Sané vorerst gesetzt ist, blei- so nur noch zwei Positionen im Mittelfeld frei. Pech für Kai Havertz: Löw vertraut in diesem Fall auf Toni Kroos und Joshua Kimmich. Glück für Kai Havertz: Die deutsche Mannschaft wird in näherer Zukunft auch wieder mit einer Viererkett­e auflaufen. Löw sagte, dass er das auch vom Gegner abhängig macht. Wenn in der Em-qualifikat­ion Gegner der Kategorie Litauen warten, werden die Deutschen wieder auf derart tief stehende Verteidigu­ngen treffen, dass sich eine eigene Fünferkett­e erübrigt. Selbst gegen Spitzentea­ms ist eine deutsche Viererkett­e denkbar. Es ist das System, das die meisten Spieler aus ihrem Verein kennen. Es hängt zudem davon ab, mit welchen Spielertyp­en Löw das System befüllt. Weltmeiste­r 2014 wurden die Deutschen mit Benedikt Höwedes als Linksverte­idiger.

● Personal Talent, wohin man schaut – außer auf der Torhüter-poben sition. Dort gilt Manuel Neuer immer noch als gesetzt. Fraglich ist lediglich, wie lange Marc-andré ter Stegen seine Rolle als Nummer zwei noch klaglos akzeptiert. Ein Luxusprobl­em. Niklas Süle ist der Abwehrchef der Zukunft, auch wenn er gegen die Niederland­e zum Adjutanten Hummels’ degradiert wurde. Der wiederum zeigte eines seiner stärksten Spiele in diesem Jahr.

Weil Antonio Rüdiger immer noch nicht über jeden Zweifel erhaben ist, darf sich auch noch Jérôme Boateng Chancen ausrechnen, nochmals wichtiges Mitglied der Mannschaft zu werden. Thilo Kehrer hat Anlagen, zu einer unscheinba­ren Spitzenkra­ft zu reifen. Hat keine Schwächen. Als Trainer weiß man, was man bekommt. Trainer mögen so etwas. Gleiches gilt auf der linken Seite sowohl für Nico Schulz als auch für Jonas Hector – wenn auch nicht auf dem Niveau von Kehrer.

Kai Havertz wird sich elegant in die Mannschaft spielen. Ein derartiges Talent wird auf der Bank nicht stärker. Er wird spielen. Genauso wie Joshua Kimmich und Toni

Kai Havertz drängt sich für die Zukunft auf

Kroos. Eine Zentrale mit Biss, Übersicht und Genie – lediglich die Torgefahr fehlt ein wenig. Dafür ist der Dreizack Werner-gnabry-sané zuständig. Sie alle deuteten mehr als nur an, in ihrer Entwicklun­g weiter zu sein, als Löw es annahm. Dazu noch Ausnahmeer­scheinunge­n wie Marco Reus und Julian Brandt als Reserve – an Qualität mangelt es nicht. Das wird Thomas Müller zu spüren bekommen. „Es war nicht das Jahr des Thomas Müller“, sagte Löw, nachdem er dem Offensivma­nn gegen Holland seinen 100. Länderspie­leinsatz ermöglicht hatte. Mehr als fraglich, ob noch viel mehr dazu kommen.

Abgesehen von seiner Formkrise, passt auch sein unorthodox­er Stil nur schwer in das neu strukturie­rte Spiel der Mannschaft. Ihn allein wegen seiner Erfahrung aufzustell­en, wird Löw nicht mehr lange machen. Mit jedem Spiel werden auch die Konkurrent­en erfahrener. Gut sind sie sowieso schon.

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Foto: Federico Gambarini, dpa Der Leipziger Timo Werner scheint in der deutschen Nationalma­nnschaft einen Stammplatz sicher zu haben.

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