Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ist Politik reine Glückssach­e?

Die Mächtigen dieser Welt mögen das nicht gerne zugeben: Aber manchmal sind es eher zufällige Fügungen als große Strategien, die zum Ziel führen. Sogar wenn es um Krieg oder Frieden geht, kann Fortuna eine Rolle spielen

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Mütter. Aber dass die Wiedervere­inigung glücklich gelaufen ist, darin sind sich doch wohl die meisten einig.

Weil wir vom Mauerfall gesprochen haben: Waren die Menschen im Sozialismu­s glückliche­r?

Wassermann: Da stellt sich die Frage, wie das Glück eigentlich zu messen ist. Wenn man ökonomisch herangeht und das Bruttoinla­ndsprodukt zum Maßstab nimmt, dann lautet die Antwort mit Blick auf den Mangelstaa­t DDR sicherlich: Nein. Wenn man Glück politisch misst und als die Chance begreift, sein eigenes Leben frei zu gestalten und an der freiheitli­chen Gestaltung des Gemeinwese­ns mitzuwirke­n, dann lautet die Antwort mit Blick auf den Einparteie­n- und Spitzelsta­at DDR wohl ebenfalls: Nein. Beides schließt aber natürlich nicht aus, dass es Momente des Glücks auch in der DDR gab, ob im Privaten und in der Nachbarsch­aft, in der Opposition oder auch bei offizielle­n Feierlichk­eiten. Glück im politisch-demokratis­chen Sinne ist das aber nicht.

Schauen wir uns etwas Aktuelles an. Donald Trumps Republikan­er verloren zwar ein wenig bei den Kongresswa­hlen im Repräsenta­ntenhaus, konnten aber im Senat dazugewinn­en. Wie sehr hat der Flüchtling­sstrom eine Rolle gespielt? Hatte Trump Glück?

Wassermann: An Trumps Agieren zeigt sich: Politische­s Glück passiert nicht einfach, sondern es lässt sich gestalten und formen. Das hat schon der italienisc­he Staatsdenk­er Niccolò Machiavell­i im 16. Jahrhunder­t erkannt. Er fragte sich: Wie viel seines Schicksals hat der Mensch, und gerade der Politiker, eigentlich selbst in der Hand? Dabei gelangte Machiavell­i zu dem Schluss, dass das Glück (fortuna) zwar blind wütet. Die politische Kunst bestehe aber darin, die unvorherse­hbaren Schicksals­schläge, die man nicht unter Kontrolle hat, in Bahnen zu lenken und auch zu nutzen.

Und das hat Trump gemacht?

Trump hat den Flüchtling­sstrom als eine für ihn günstige Gelegenhei­t erkannt, sich im Wahlkampf als den Verteidige­r Amerikas gegen unkontroll­ierte Zuwanderun­g zu inszeniere­n. Damit schloss er gewisserma­ßen an Machiavell­i an, der der Politik riet, wie ein Deichbaume­ister die unvorherse­hbaren Launen der Fortuna zu kanalisier­en, um dadurch Überschwem­mungen vorzubeuge­n. Die Metaphorik des Stroms und der Deiche funktionie­rt dabei unabhängig davon, ob der Strom tatsächlic­h steigt und inwiefern der Deich auch wirklich halten würde. Entscheide­nd ist, dass Trump sein Wahlglück dadurch beförderte, dass er eine zufällige Begebenhei­t zur Selbstinsz­enierung nutzte.

Gibt es überhaupt so etwas wie Glück in der Politik? Oder heißt es eher, dass man verstehen muss, wann man als Politiker handeln soll und wann nicht?

Wassermann: Ja, das Glück in der Politik ist einerseits die günstige Gelegenhei­t, die es zu ergreifen gilt. Daneben gibt es aber auch eine andere Art von politische­m Glück: Glück als Ziel und Sinn von Politik.

Was ist damit gemeint?

Wassermann: Wann sind die Menschen eines Landes glücklich? Was macht sie glücklich? Aristotele­s zufolge streben alle Menschen nach Glück. Jedoch sind sie uneinig, wo sie dieses Glück finden. Manche suchen es in der Befriedigu­ng ihrer Lust, andere in der Beschäftig­ung mit der Philosophi­e, wieder andere im politische­n Engagement. Letzteres ist das eigentlich politische Glück: sich gemeinsam mit den Mitbürgern für das Gemeinwese­n einzusetze­n.

Aber jeder hat ja ein anderes Empfinden von Glück, oder?

Wassermann: Glück wird in diesem Sinne oft sehr individual­istisch betrachtet. Im politische­n Sinn kann das Glück für ein Gemeinwese­n dagegen als Gemeinwohl verstanden werden. Auch dieser Begriff ist sehr offen. Was ist überhaupt das Gemeinwohl? Wie schaffe ich eine glückliche Gemeinscha­ft? Die Aufgabe der Politik und insbesonde­re der politische­n Parteien ist es, hierauf zeitgemäße Antworten zu geben, über die sich dann demokratis­ch beraten und hoffentlic­h glücklich entscheide­n lässt.

Interview: Denis Dworatsche­k

1977 in Ulm geboren, ist Politikwis­senschaftl­er. Er lehrt zu Theorie in der Politik an der Humboldt-universitä­t zu Berlin. Zu seinen Forschungs­schwerpunk­ten gehören der Wandel von Staatlichk­eit und Demokratie, der Einfluss von Experten und Ratgebern auf die Politik sowie die Zukunft des Krieges.

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Foto: dpa Dass aus der Kuba-krise 1962 kein Krieg wurde, hatte auch mit Glück zu tun: Nikita Chruschtsc­how (links) und John F. Kennedy.Wassermann:
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Dr. Felix Wassermann,
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