Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Krieg der Sterne

Das Hotelzimme­r, das Fitnessstu­dio, der Zahnarzt – all das lässt sich heute im Internet bewerten. Immer mehr Konsumente­n verlassen sich auf diese Urteile. Eine Geschichte über blindes Vertrauen und den Kampf um Glaubwürdi­gkeit

- VON CHRISTINA HELLER

Augsburg Von einer Frau, die in den 80er Jahren zweimal Weltmeiste­rin im Bodybuildi­ng war, erwartet man, dass sie sich durchsetzt. Dass sie weiß, wie man im Streit die Muskeln spielen lässt. Renate Holland weiß es wirklich. Die 66-Jährige betreibt mehrere Fitnessstu­dios im Raum München. Und sie hat geschafft, was andere Unternehme­r sich wünschen: Sie hat denen die Stirn geboten, die sie beurteilen. Leicht, sagt ihr Anwalt, war das nicht.

Vor vier Jahren hat Holland bemerkt, dass ihr Geschäft schwierige­r wird. Weil potenziell­e Kunden zwar ein Probetrain­ing in ihrem Fitnessstu­dio vereinbart­en, dann aber nicht auftauchte­n. Sie und ihre Mitarbeite­r telefonier­ten ihnen hinterher und bekamen immer wieder zu hören: Die Bewertung auf der Internetpl­attform Yelp sei zu schlecht, man habe es sich anders überlegt. Irgendwann sah Holland ihren Ruf in Gefahr. Sie zog vor Gericht.

Vor zwei Wochen hat das Oberlandes­gericht in München der 66-Jährigen recht gegeben. Die Sache ist verzwickt, lässt sich aber beispielha­ft an einem von Hollands Fitnessstu­dios erklären: Dieses hatte auf der Plattform zwar 84 Bewertunge­n, aber nur neun flossen in die Durchschni­ttsnote ein. Die Folge: Das Fitnessstu­dio bekam auf Yelp nur zwei von fünf Sternen – und das, obwohl in den übrigen 75 Urteilen die meisten Nutzer vier bis fünf Sterne vergeben hatten. Das irische Unternehme­n argumentie­rte, welche Bewertunge­n in die Gesamtnote eingehen, entscheide ein Programm. Wie das funktionie­rt, ist Geschäftsg­eheimnis. Nur so viel: Der Algorithmu­s wähle objektiv aus. Das hielten die Münchner Richter für unzulässig. Yelp soll Renate Holland Schadeners­atz zahlen.

Der Fall zeigt: Bewertunge­n im Internet haben eine unheimlich­e Macht. Die Urteile von Nutzern entscheide­n über Gewinn und Verlust. Erst recht, wo man heute zu fast allem seinen Kommentar abgeben kann: Wer auf der Suche nach dem besten Plätzchenr­ezept ist, kann sich an den Sternen auf der Rezeptesei­te Chefkoch entlanghan­geln. Wem Backen nicht liegt, dem zeigt Tripadviso­r die schönsten Weihnachts­märkte. Und wenn der Ofen wegen Dauerbeans­pruchung den Geist aufgibt, teilen Käufer auf Amazon mit, wie gut ein neues Gerät funktionie­rt. Es gibt sogar Plattforme­n, auf denen man seine Expartner beurteilen kann. „Hat viel Geld, ist aber schlecht im Bett“, steht dann da, natürlich anonym.

Überall hinterlass­en Nutzer inzwischen ihre Bewertung. Ein Stern für unter aller Sau, fünf Sterne für allererste Sahne. Ein dunkelrote­r Smiley mit wutverzerr­tem Gesicht für miserable Leistung, ein hellgrünes Grinsegesi­cht für eine hervorrage­nde. Die Firmen fordern ihre Kunden ja auch dazu auf. Jeder soll sagen, wie er was fand. Stellt sich nur die Frage: Warum tut man das?

„Weil es Spaß macht und anderen hilft“, sagt Tabea Litzkendor­f. Die 44-jährige Augsburger­in ist seit gut einem Jahr Mitglied beim Tourismus-portal Tripadviso­r. Seither hat sie fast 900 Beiträge geschriebe­n. Drei Sterne für ein Burgerloka­l in Hamburg. Fünf für eine Tapasbar in Barcelona. In München zieht sie einem Café zwei Sterne ab: Völlig überteuert! Zuletzt hat sie die Himbeer-schmand-torte in einem Café auf der Schwäbisch­en Alb gelobt. „Leckerer geht’s nicht! Falls die angeboten wird, unbedingt bestellen.“

So wie Litzkendor­f machen es viele. Allein auf Tripadviso­r, dem wichtigste­n Portal der Tourismusb­ranchen, sind im Monat fast 500 Millionen Nutzer aktiv, insgesamt haben sie fast 700 Millionen Bewertunge­n gesammelt. Sie beurteilen Sehenswürd­igkeiten, Hotels und Restaurant­s. Laden Fotos vom Es- und Zimmern hoch und schreiben, was sie besonders gut und was besonders schrecklic­h fanden.

Nicht alles, was auf den Portalen zu lesen ist, ist freilich hilfreich. So schreibt etwa ein Nutzer über den Grand Canyon, die 446 Kilometer lange Schlucht, die sich durch den Us-bundesstaa­t Arizona zieht: „Andauernd kommen Aussichtsp­unkte, von denen man immer nur das Gleiche sieht: ein Loch im Boden.“Ein Stern! In den Augen einer anderen Nutzerin ist der Pariser Eiffelturm: „Viel kleiner und nicht so schön wie erwartet, sieht aus wie ein verrostete­s altes Baugerüst.“Ebenfalls ein Stern. Urteil: Vernichten­d!

Die einen bewerten. Noch größer ist aber die Zahl derer, die sich an diesen Urteilen orientiere­n. Christian Scherg leitet die Reputation­sagentur Revolvermä­nner in Düsseldorf, er ist einer der Experten, wenn es um Online-bewertunge­n geht. Er sagt: „70 Prozent der Konsumente­n verlassen sich nahezu blind auf die kleinen gelben Sterne im Internet.“

Tabea Litzkendor­f macht es ähnlich. Sie fährt nirgends mehr hin, ohne vorher zu checken, wie die Hotels, Restaurant­s und Sehenswürd­igkeiten bewertet sind. „Ich fühle mich dadurch sehr viel besser informiert“, sagt sie. Aber sich mal überrasche­n lassen? Etwas selbst entdecken? Litzkendor­f erzählt von einer Geschäftsr­eise nach Amsterdam. Die Sekretärin hatte für sie und die Kollegen die Unterkunft gebucht, die jedoch schlechte Noten bei Tripadviso­r hatte. Also suchte sich Litzkendor­f selbst ein Hotel. „Die Kollegen sind alle in der gleichen Nacht ausgecheck­t und haben sich was anderes gesucht, weil es so schlimm war.“

Nur: Es kann einem in dieser Besen wertungswe­lt auch anders gehen. Am deutlichst­en wird das am Beispiel von Oobah Butler. Der junge Londoner schaffte es vor einem Jahr, seine Gartenlaub­e zum beliebtest­en Restaurant in London zu machen – ohne dass dort je ein Gast gegessen hatte oder auch nur ein Herd installier­t war. Er animierte einfach Freunde und Bekannte, ihm tolle Kommentare zu hinterlass­en. Danach lief es von alleine. Innerhalb von sechs Monaten war „The Shed at Dulwich“auf Platz eins in London – obwohl es gar nicht existierte.

Für den Bewertungs­experten Scherg ist das nicht überrasche­nd. „Für viele Unternehme­n sind die Bewertunge­n existenzie­ll“, sagt er. Das macht kreativ. Manche bieten ihren Kunden nicht nur Gutscheine an, wenn sie eine Bewertung da lassen. Sie versuchen auch, sich gute Noten zu beschaffen. Mit wenigen Klicks findet man im Internet Agenturen, die positive Bewertunge­n verkaufen. Studien gehen davon aus, dass etwa 30 Prozent der Internetbe­wertungen gefälscht sind.

Portalen wie Tripadviso­r ist diese Gefahr natürlich bewusst. Sprecherin Susanne Nguyen berichtet von einem zweistufig­en Kontrollsy­stem, das Bewertunge­n auf verschiede­ne Kriterien hin untersuche. Spüre der Computer eine Auffälligk­eit auf, leite er den Kommentar an ein Ermittler-team weiter. „Das guckt dann noch mal mit menschlich­em Sachversta­nd darüber.“Nguyen rät jedem, mindestens zehn bis zwölf Kommentare zu lesen und nicht nur die Durchschni­ttsnote.

Längst macht der Vergleichs­zwang auch vor Ärzten nicht mehr halt. Wo früher der Nachbar oder die Verwandten um Rat für einen guten Zahnarzt gefragt wurden, klickt man sich heute durch Bewertungs­portale wie Jameda. Das Problem ist nur: Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient lässt sich schwer in Sterne fassen, ebenso wie man Diagnosen kaum vergleiche­n kann. Und sagt es wirklich etwas über die Behandlung aus, wenn im Wartezimme­r unbequeme Stühle stehen oder die Arzthelfer­in unfreundli­ch reagiert?

Das viel größere Problem ist ja: Bei Jameda können Ärzte eine Mitgliedsc­haft abschließe­n. Wer 139 Euro im Monat bezahlt, taucht bei bestimmten Suchbegrif­fen oder in seinem Fachgebiet weiter oben auf. Der Patient denkt dann, der Arzt sei besonders gut, dabei hat er vielleicht einfach nur besonders viel bezahlt. Genau deshalb klagte im Februar eine Kölner Hautärztin gegen Jameda – und gewann vor dem Bundesgeri­chtshof. Sie wollte nicht dort auftauchen, wo andere sich einen besseren Platz erkaufen können.

Dass dieses Geschäftsm­odell überhaupt funktionie­rt, zeigt, wie hoch der Druck ist, im Internet viele Sternchen zu sammeln. Unternehme­n, die schlecht bewertet werden, tun sich schwer, diesen Makel loszuwerde­n. „Es handelt sich dabei um eine subjektive Meinungsäu­ßerung, die von der Meinungsfr­eiheit gedeckt ist“, sagt Jens Steinberge­r von der Kanzlei Greyhills. Er hat Renate Holland im Prozess gegen Yelp vertreten. „Aber sobald Tatsachen behauptet werden, müssen die natürlich stimmen.“Hier setzen viele der Klagen an, die sich inzwischen gegen Bewertungs­portale richten.

Der Kampf der Fitnessstu­diobetreib­erin ist übrigens noch nicht ausgestand­en. Die Richter in München haben eine Revision zugelassen. Sollte Yelp diese beantragen, müsste sich der Bundesgeri­chtshof mit dem Fall befassen. Steinberg geht davon aus, dass es auch so kommen wird. Das zeigt: Im Krieg der Sterne steht viel auf dem Spiel. Es geht um Meinungsfr­eiheit, um Geld und um Glaubwürdi­gkeit, um Sichtbarke­it und Orientieru­ng im Gewirr der Kundenmein­ungen – also um viel mehr als nur eine schnelle Entscheidu­ngshilfe per Mausklick.

Auch Ex-freunde kann man im Internet bewerten

Ein Arzt? Früher hörte man auf den Rat von Bekannten

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Bild: stock.adobe.com Die Macht der Bewertungs­portale: Wieviel Sternlein stehen, entscheide­t oft über geschäftli­chen Erfolg oder Misserfolg.

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