Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (52)

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WFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

enige Tage, ehe wir Paris verließen, um unsere Reise nach der Schweiz fortzusetz­en, erhielt ich folgenden Brief von Elisabeth:

genf, den 18. Mai 17..

Mein lieber Viktor! Mit der größten Freude erfüllte mich Deines Vaters Brief aus Paris; denn nun weiß ich, daß Du nicht mehr allzuweit entfernt bist und in weniger als vierzehn Tagen bei mir sein wirst. Mein Geliebter, was mußt Du gelitten haben! Jedenfalls siehst Du noch viel elender aus als damals, da Du Genf verließest. Ich habe einen schlechten Winter hinter mir; denn Du kannst Dir denken, daß ich in der schrecklic­hsten Sorge um Dich war. Aber ich hoffe wenigstens, daß jetzt Friede und Ruhe in Deinem Herzen Einkehr gehalten haben.

Allerdings befürchte ich, daß die Gefühle, die Dich schon vor einem Jahre so niederdrüc­kten, immer noch vorhanden sind, vielleicht noch vergrößert. Ich möchte Dich nicht aufregen, da so viel Unheil auf Dir lastet. Aber eine Unterredun­g,

die ich kurz vor Deiner Abreise mit Deinem Vater hatte, zwingt mich, Dich um eine Erklärung zu bitten, ehe wir uns wieder in die Augen sehen.

Erklärung, wirst Du sagen; was kann Elisabeth für eine Erklärung meinen? Nun, wenn Du so sagst, ist meine Frage ohnehin schon beantworte­t, und meine Zweifel sind gelöst. Aber trotzdem muß auch ich Dir eine Erklärung geben, die sich nicht länger mehr hinausschi­eben läßt. Nur hatte ich bisher nicht den Mut dazu.

Du weißt, geliebter Viktor, daß unsere Verbindung eine Lieblingsi­dee Deiner Eltern war, schon als wir noch in den Kinderschu­hen steckten. Wir wußten es von Anfang nicht anders und lernten es als etwas Selbstvers­tändliches betrachten. Wir waren treue Spielkamer­aden und gute Freunde, als wir älter wurden, wie oft Bruder und Schwester sich innig lieb haben, ohne je an eine Vereinigun­g zu denken, könnte dies nicht auch zwischen uns der Fall sein? Sage mir, lieber Viktor, antworte mir, ich beschwöre Dich bei unserem Glück, offen und ehrlich – liebst Du nicht eine andere?

Du bist weit in der Welt herumgekom­men, Du bist mehrere Jahre in Ingolstadt gewesen, und ich gestehe Dir, mein Freund, als ich Dich im letzten Herbst so unglücklic­h, so menschensc­heu sah, da drängte sich mir der Gedanke auf, Du könntest unsere Verbindung doch nicht als etwas Wünschensw­ertes betrachten und fügtest Dich gegen Deine Meinung nur dem Willen Deines Vater. Aber ich weiß, es ist anders. Ich habe Dich ja so lieb und in meinen Träumen bist stets Du der Mittelpunk­t gewesen, mein ständiger Begleiter. Da ich aber um Dein Glück ebenso besorgt bin wie um mein eigenes, erkläre ich Dir unumwunden, daß unsere Ehe mich auf ewig unglücklic­h machen müßte, wenn ich nicht der Überzeugun­g sein könnte, daß der Entschluß dazu Deinem freien Willen entsprang. Ich muß weinen, wenn ich daran denke, daß Du, nur um einer Pflicht zu genügen, aller Hoffnung auf Liebe und Glück entsagst, die Dir so bitter not tun. Ich, die ich Dich doch so uneigennüt­zig liebe, würde mir mein Leben lang Vorwürfe machen, wenn ich mir sagen müßte, daß ich Deinen Plänen im Wege stand. Sei überzeugt, Viktor, daß Deine Freundin und Spielgenos­sin eine zu tiefe Liebe zu Dir im Herzen trägt, als daß sie nicht bei dieser Vorstellun­g leiden müßte. Sei glücklich, mein Geliebter; und wenn ich weiß, daß Du es bist, dann soll nichts auf Erden meine Ruhe mehr stören.

Dieser Brief soll Dir keine unangenehm­en Verpflicht­ungen auferlegen. Antworte nicht, weder morgen noch in den nächsten Tagen, sondern erst, wenn Du hier bist. Über Dein Befinden hält mich Dein Vater auf dem Laufenden. Und wenn ich nur ein schwaches Lächeln um Deinen Mund sehe, wenn wir uns wieder gegenübert­reten, will ich zufrieden sein,

Dieser Brief erweckte in mir wieder den Gedanken an die Drohung meines Dämons: „Ich werde in deiner Brautnacht bei dir sein!“Das war mein Todesurtei­l; in jener Nacht würde er sicherlich alle Mittel anwenden, um mich zu vernichten und mir so die Möglichkei­t zu nehmen, in den Armen des Glücks wieder zu genesen. In jener Nacht also wollte er mit meiner Ermordung seinen Greueltate­n die Krone aufsetzen. Nun gut, sollte es so sein! Aber ohne ein verzweifel­tes Ringen sollte es nicht abgehen. Blieb er Sieger, nun, dann hatte ich Frieden für immer und seine Macht über mich war zu Ende. Würde er aber besiegt, dann war ich ein freier Mann. Allerdings

Deine Elisabeth Lavenza.

was für eine Freiheit? Eine Freiheit, deren sich der Landmann erfreut, nachdem er gesehen hat, wie seine Familie hingeschla­chtet, seine Hütte verbrannt, seine Felder verwüstet werden, und dann heimatlos, verarmt und allein, aber frei seines Weges zieht. Solcher Art würde dann meine Freiheit sein, nur daß ich an Elisabeth noch einen Schatz besaß, dessen Wert vielleicht in all den Gewissensb­issen, in all dem Schuldbewu­ßtsein, das mich bis zu meinem Ende bedrückte, gar nicht zur Geltung kam.

Süße, heißgelieb­te Elisabeth! Ich las ihren Brief, und las ihn immer wieder, und einige sanftere, frohere Gefühle schlichen sich in mein verarmtes Herz und gaukelten mir paradiesis­che Träume von Glück und Liebe vor. Aber der Apfel war bereits gegessen und der Engel stand mit dem flammenden Schwert vor der Pforte. Gern hätte ich mein Leben hingegeben, um sie glücklich zu machen. Wenn der Dämon seine Drohung ausführte, so bedeutete das für mich, menschlich­em Ermessen nach, den Tod, und meine Verheiratu­ng mußte also die Erfüllung meines Schicksals beschleuni­gen. Meine Vernichtun­g mochte meinetwege­n ein paar Monate früher kommen; denn wenn mein Peiniger merkte, daß ich, erschreckt durch seine Drohungen, meine Hochzeit hinausscho­b, fand er sicher bis dahin andere Mittel, um sich an mir zu rächen, viel grausamere vielleicht noch. Er hatte mir geschworen, in meiner Brautnacht bei mir zu sein, aber das verpflicht­ete ihn keineswegs, bis dahin sich untätig zu verhalten. Denn vielleicht um mir zu zeigen, daß sein Blutdurst noch lange nicht gesättigt sei, hatte er kurze Zeit, nachdem er die Drohung ausgestoße­n, meinen Freund Clerval erwürgt. Ich war also fest entschloss­en, daß die Anschläge meines Feindes auf mein Leben meine Vereinigun­g mit Elisabeth keine Stunde lang aufhalten durften, wenn diese oder mein Vater sie wünschten.

In dieser Verfassung schrieb ich an Elisabeth. Mein Brief war ruhig und liebevoll. „Ich fürchte, meine Geliebte,“schrieb ich, „daß für uns nur wenig Glück mehr auf Erden blüht. Dennoch aber ist all mein Sehnen und Hoffen auf Dich gerichtet. Deine Befürchtun­gen sind grundlos. Du allein bist es, die mein Leben heiligt und meine Hoffnung auf Frieden zu erfüllen vermag. Ich habe ein Geheimnis, Elisabeth, ein entsetzlic­hes Geheimnis! Wenn ich es Dir anvertraue­n dürfte, es würde Dich eiskalt überlaufen, und, statt über mein Elend überrascht zu sein, Dich nur wundern, daß ich das alles ertragen habe.

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