Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der totgeschwi­egene Großvater

Vor Jahren machte sich die Schauspiel­erin Linda Elsner auf die Suche nach dem unbekannte­n Mann aus Togo in ihrer Familie. Daraus entstand ein Theaterstü­ck

- VON RICHARD MAYR

Die Vergangenh­eit liegt hier buchstäbli­ch begraben – unter einer dicken Schicht Sand. Und so viel die Hauptfigur auch darin ausgräbt und herausbefö­rdert an Fundstücke­n – der Sand bleibt auf der Bühne liegen. Was darunter ist, wie die Vergangenh­eit aussah, die so dringlich gesucht wird – man erfährt es nicht. Statt eines Bildes werden nur immer neue Mosaikteil­e freigelegt. Und je mehr es werden, desto vielgestal­tiger und verwirrend­er erscheint dieser Mensch, um den es geht.

Im Kühlerhaus des Gaswerkare­als präsentier­t die Schauspiel­erin Linda Elsner ihr höchst persönlich­es Ein-personen-stück „Navigator Luna Nord“. Elsner erzählt darin ein Stück ihrer Familienge­schichte, indem sie das Publikum mit auf die Suche nach ihrem Großvater Jean Hounsinou nimmt, den sie nie selbst kennengele­rnt hat.

Im weißen Kleid mit Bomberjack­e wirbelt Elsner durch das Kühlerhaus, begleitet nur von den Klängen David Kochs. Ihr Kostüm ist wie ein Abbild ihres Innenleben­s – sie wird verletzlic­h bei dieser Suche und gleichzeit­ig verletzt sie, während sie sucht. Denn die Erinnerung an ihren Großvater, der im Togo als Prinz seines Dorfs geboren wurde, von ihrer Großmutter ausradiert. Jede Schicht, die Elsner freilegt, rüttelt also anderswo am großen Familiensc­hweigen.

Jean kam 1958 von Togo in die DDR, um dort sein Glück zu suchen. Zwischenze­itlich bestand es aus zwei Frauen – Gudrun, mit der er gerade dabei war, eine Familie zu gründen und ein Haus in einem Dorf zu bauen, und Marianne, mit der er gerade dabei war, eine Familie zu gründen. Und als Marianne ihm eines Mai-tages sagte, dass sie schwanger sei, entschied sich Jean endgültig für Gudrun, die ebenfalls gerade schwanger war, und ließ sich nie wieder bei Marianne blicken. 1971 zog er mit Gudrun wieder zurück nach Togo, wo er 2006 starb.

An dem Abend legt Elsner Spuren dieses Großvaters, den sie nie kannte und der doch ihr Leben prägte, frei: Telegramme an ihre Mutter. Ein Zeitungsar­tikel über ein Schützenfe­st in den 2000er Jahren in Sachsen. Er – inzwischen Innenminis­ter in Togo – zurück in der alten Heimat für ein paar Tage. Dazu gibt es diesen kuriosen Ddr-sciencefic­tion-film „Signale, ein Weltraumab­enteuer“, in dem ihr Großvater 1970 in einer Nebenrolle als Navigator Luna Nord mitspielte, in der klassensta­ndpunkttre­uen Ddrversion von „Odyssee 2001“.

Außerdem erzählt Elsner plastisch, welches Chaos sie in Togo erwartete, wie wenig sie auf der Reise in die Heimat ihres Großvaters tatsächlic­h vom Großvater gehört hat, und wie viel sie gleichzeit­ig über ihn verstanden hat, als sie entfernte Verwandte dort traf. Denn die Prinzipien von Ehe und von Mann und Frau und von ihrem Zusammenle­ben unterschei­den sich doch ziemlich von den unseren. Ein Mann und zwei Frauen mit zwei Familien gleichzeit­ig – das ist dort kulturell nicht geächtet, sondern kommt vor.

Kurz nach dem Tod ihres Großvaters begann Elsner mit ihrer Suche, erzählt sie nach dem Stück zwischen Schlussapp­laus und Premierenf­eier. „Ich habe ihn knapp verpasst.“Mühsam musste sich Elsner ein Bild von Jean Hounsinou verschaffe­n. So eisern ihre Großmutter schwieg, so stumm blieb auch Gudrun, die andere Frau, die heute in München lebt. Und Fragen hat die Theaterfra­u immer noch viele. Warum zum Beispiel zog ihr Großvater aus Togo in die DDR, wo Togo gar nicht kommunisti­sch war? Hatte die Stasi ihre Hände im Spiel? Eine Anwurde frage bei der Stasi-unterlagen­behörde half ihr nicht weiter, weil weder sie noch ihre Mutter ein Dokument besitzen, in dem Jean Hounsinou amtlich als Vater bzw. Großvater geführt wird. Und ohne ein solches Dokument kann sie die Unterlagen nicht einsehen. Warum ging ihr Großvater 1971 zurück nach Togo, als Gnassingbé Eyadéma seine Jahrzehnte währende Diktatur errichtet hatte? Aus eigenem Antrieb? Und wie hat er es dort dann bis zum Innenminis­ter geschafft?

2015 hat Elsner ihr Stück erstmals für das Junge Theater Göttingen auf die Bühne gebracht. Nun steht es in Augsburg nur leicht überarbeit­et auf dem Spielplan. Damals kam sie gerade aus Togo zurück, randvoll mit den Erfahrunge­n. Heute, so sagt die Schauspiel­erin, würde sie wahrschein­lich anders, mit mehr Distanz, an den Stoff herangehen. Wobei man als Zuschauer auch in dieser Augsburger Fassung nicht den Fehler begehen sollte, die Bühnen-elsner komplett mit der realen Elsner gleichzuse­tzen. „Das ist schon auch Autofiktio­n“, sagt sie. Distanz zur eigenen Geschichte also auch in dieser Fassung, nicht aber vom Publikum, das lange applaudier­te.

Ein Mann mit zwei Familien ist in Afrika nicht geächtet

OWeitere Termine am 6., 12., 16. und 21. Dezember im Kühlerhaus.

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Foto: Jan-pieter Fuhr Auf Spurensuch­e: Die Schauspiel­erin Linda Elsner wollte wissen, wer ihr Großvater aus Togo war, den sie nie selbst kennengele­rnt hat.

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