Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der totgeschwiegene Großvater
Vor Jahren machte sich die Schauspielerin Linda Elsner auf die Suche nach dem unbekannten Mann aus Togo in ihrer Familie. Daraus entstand ein Theaterstück
Die Vergangenheit liegt hier buchstäblich begraben – unter einer dicken Schicht Sand. Und so viel die Hauptfigur auch darin ausgräbt und herausbefördert an Fundstücken – der Sand bleibt auf der Bühne liegen. Was darunter ist, wie die Vergangenheit aussah, die so dringlich gesucht wird – man erfährt es nicht. Statt eines Bildes werden nur immer neue Mosaikteile freigelegt. Und je mehr es werden, desto vielgestaltiger und verwirrender erscheint dieser Mensch, um den es geht.
Im Kühlerhaus des Gaswerkareals präsentiert die Schauspielerin Linda Elsner ihr höchst persönliches Ein-personen-stück „Navigator Luna Nord“. Elsner erzählt darin ein Stück ihrer Familiengeschichte, indem sie das Publikum mit auf die Suche nach ihrem Großvater Jean Hounsinou nimmt, den sie nie selbst kennengelernt hat.
Im weißen Kleid mit Bomberjacke wirbelt Elsner durch das Kühlerhaus, begleitet nur von den Klängen David Kochs. Ihr Kostüm ist wie ein Abbild ihres Innenlebens – sie wird verletzlich bei dieser Suche und gleichzeitig verletzt sie, während sie sucht. Denn die Erinnerung an ihren Großvater, der im Togo als Prinz seines Dorfs geboren wurde, von ihrer Großmutter ausradiert. Jede Schicht, die Elsner freilegt, rüttelt also anderswo am großen Familienschweigen.
Jean kam 1958 von Togo in die DDR, um dort sein Glück zu suchen. Zwischenzeitlich bestand es aus zwei Frauen – Gudrun, mit der er gerade dabei war, eine Familie zu gründen und ein Haus in einem Dorf zu bauen, und Marianne, mit der er gerade dabei war, eine Familie zu gründen. Und als Marianne ihm eines Mai-tages sagte, dass sie schwanger sei, entschied sich Jean endgültig für Gudrun, die ebenfalls gerade schwanger war, und ließ sich nie wieder bei Marianne blicken. 1971 zog er mit Gudrun wieder zurück nach Togo, wo er 2006 starb.
An dem Abend legt Elsner Spuren dieses Großvaters, den sie nie kannte und der doch ihr Leben prägte, frei: Telegramme an ihre Mutter. Ein Zeitungsartikel über ein Schützenfest in den 2000er Jahren in Sachsen. Er – inzwischen Innenminister in Togo – zurück in der alten Heimat für ein paar Tage. Dazu gibt es diesen kuriosen Ddr-sciencefiction-film „Signale, ein Weltraumabenteuer“, in dem ihr Großvater 1970 in einer Nebenrolle als Navigator Luna Nord mitspielte, in der klassenstandpunkttreuen Ddrversion von „Odyssee 2001“.
Außerdem erzählt Elsner plastisch, welches Chaos sie in Togo erwartete, wie wenig sie auf der Reise in die Heimat ihres Großvaters tatsächlich vom Großvater gehört hat, und wie viel sie gleichzeitig über ihn verstanden hat, als sie entfernte Verwandte dort traf. Denn die Prinzipien von Ehe und von Mann und Frau und von ihrem Zusammenleben unterscheiden sich doch ziemlich von den unseren. Ein Mann und zwei Frauen mit zwei Familien gleichzeitig – das ist dort kulturell nicht geächtet, sondern kommt vor.
Kurz nach dem Tod ihres Großvaters begann Elsner mit ihrer Suche, erzählt sie nach dem Stück zwischen Schlussapplaus und Premierenfeier. „Ich habe ihn knapp verpasst.“Mühsam musste sich Elsner ein Bild von Jean Hounsinou verschaffen. So eisern ihre Großmutter schwieg, so stumm blieb auch Gudrun, die andere Frau, die heute in München lebt. Und Fragen hat die Theaterfrau immer noch viele. Warum zum Beispiel zog ihr Großvater aus Togo in die DDR, wo Togo gar nicht kommunistisch war? Hatte die Stasi ihre Hände im Spiel? Eine Anwurde frage bei der Stasi-unterlagenbehörde half ihr nicht weiter, weil weder sie noch ihre Mutter ein Dokument besitzen, in dem Jean Hounsinou amtlich als Vater bzw. Großvater geführt wird. Und ohne ein solches Dokument kann sie die Unterlagen nicht einsehen. Warum ging ihr Großvater 1971 zurück nach Togo, als Gnassingbé Eyadéma seine Jahrzehnte währende Diktatur errichtet hatte? Aus eigenem Antrieb? Und wie hat er es dort dann bis zum Innenminister geschafft?
2015 hat Elsner ihr Stück erstmals für das Junge Theater Göttingen auf die Bühne gebracht. Nun steht es in Augsburg nur leicht überarbeitet auf dem Spielplan. Damals kam sie gerade aus Togo zurück, randvoll mit den Erfahrungen. Heute, so sagt die Schauspielerin, würde sie wahrscheinlich anders, mit mehr Distanz, an den Stoff herangehen. Wobei man als Zuschauer auch in dieser Augsburger Fassung nicht den Fehler begehen sollte, die Bühnen-elsner komplett mit der realen Elsner gleichzusetzen. „Das ist schon auch Autofiktion“, sagt sie. Distanz zur eigenen Geschichte also auch in dieser Fassung, nicht aber vom Publikum, das lange applaudierte.
Ein Mann mit zwei Familien ist in Afrika nicht geächtet
OWeitere Termine am 6., 12., 16. und 21. Dezember im Kühlerhaus.