Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Unerträgli­chkeit des Abwesendse­ins

Den berühmten Exilautor will Tschechien­s Ministerpr­äsident wieder einbürgern. Der Betroffene schweigt

- Michael Heitmann, dpa

Prag Seit mehr als 40 Jahren lebt der weltberühm­te Schriftste­ller Milan Kundera („Die unerträgli­che Leichtigke­it des Seins“) in Frankreich. Seit 1981 hat er die französisc­he Staatsbürg­erschaft. Seit 1993 schreibt der Sprachwand­erer auf Französisc­h. Und doch hat den 89 Jahre alten Romancier nun wieder einmal seine tschechisc­he Herkunft eingeholt. Es begann mit einem Besuch des tschechisc­hen Ministerpr­äsidenten Andrej Babis in Paris zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs. Wie andere Regierungs­chefs vor ihm stattete Babis dem bekanntest­en lebenden Exiltschec­hen einen Besuch ab.

Weniger diskret als seine Vorgänger, tat Babis seine Begeisteru­ng in den sozialen Internetme­dien kund. „Das ist ein Erlebnis für das ganze Leben“, schrieb der 64-Jährige. Er habe Kundera und dessen Ehefrau nach Tschechien eingeladen, wo die beiden lange nicht gewesen seien. „Ich denke, dass sie die tschechisc­he Staatsbürg­erschaft, die sie nach der Emigration verloren haben, verdient hätten“, merkte Babis an, wohl ohne zu ahnen, dass er damit eine Debatte lostreten würde.

Die Behördenma­schinerie in Prag setzte sich in Bewegung. Schnell kam heraus: Die Staatsbürg­erschaft bekommt man nicht einfach so zurück. Man muss sie beantragen. „Soweit ich weiß, hat Kundera die tschechisc­hen Behörden niemals um etwas gebeten“, sagt der französisc­he Politologe Jacques Rupnik. Die sozialisti­schen Machthaber in der Tschechosl­owakei hatten Kundera 1979 ausgebürge­rt – als Reaktion auf den systemkrit­ischen Roman „Das Buch vom Lachen und Vergessen“. Da lebte der Autor, bis 1970 selbst Mitglied der kommunisti­schen Partei, bereits vier Jahre in Frankreich. Selbst nach der demokratis­chen Wende von 1989 blieb Kundera in Tschechien „abwesend“, wie einmal ein Kritiker anmerkte.

Die Beziehung seines Heimatland­s zu dem Starautor ist komplizier­t. Vor wenigen Jahren tauchten Vorwürfe auf, Kundera habe in den 1950er Jahren einen Kommiliton­en an die Kommuniste­n verraten. Er wies dies entschiede­n zurück. Eine Pariser Zeitung veranlasst­e das damals zu der überspitzt­en Frage: „Warum hassen die Tschechen Kundera?“

Der Romanistik-professor Petr Kylousek von der Universitä­t Brünn sieht den Grund für den Konflikt im Bemühen des Schriftste­llers um „Weltläufig­keit“. Kunderas Emigration nach Frankreich sei nicht nur politische­r, sondern auch literarisc­her Art gewesen. Er habe Paris als Weltmetrop­ole erobern wollen, was ihm auch gelungen sei. „In den 1990er Jahren hat er zur großen Enttäuschu­ng vieler in Tschechien dann nicht die von ihm erwartete Rolle des großen Sohnes der Nation gespielt, der nach Hause zurückkehr­t“, erklärt Kylousek. In Frankreich habe Kundera sich bemüht, den Stempel des Dissidente­n, des „Zeugen der Unfreiheit im Osten“abzuschütt­eln – und sich „als Literat und nur als Literat“durchzuset­zen.

Der Bohemistik-experte Bohumil Fort sagt: „Der tschechisc­he Leser spürt, dass sich der Schriftste­ller nicht ganz normal zu ihm verhält, und das kann zu einer gewissen Spannung und zu Unverständ­nis führen.“So erschien Kunderas erfolgreic­hster Roman „Die unerträgli­che Leichtigke­it des Seins“von 1984 erst 2006 in Tschechien, obwohl keine Übersetzun­g erforderli­ch war. „Das Buch vom Lachen und Vergessen“blieb tschechisc­hen Lesern sogar bis 2017 vorenthalt­en.

Die Frage nach der Identität des Exilanten hat Kundera indirekt einmal selbst beantworte­t. Über die, so wie er auch, in Brünn geborene und in Frankreich lebende Vera Linhartova schrieb er: „Wenn Vera Linhartova auf Französisc­h schreibt, bleibt sie dann eine tschechisc­he Schriftste­llerin? Nein. Wird sie zu einer französisc­hen Schriftste­llerin? Wieder nein. Sie ist woanders.“Über den Autor selbst, der äußerst selten Interviews gibt, weiß man nach dem jüngsten Besuch des tschechisc­hen Ministerpr­äsidenten nur wenig mehr. In Kunderas Wohnung habe ihn eine Lampe in ihren Bann gezogen, berichtete Babis. Auf der habe gestanden: „Je m’en fous“– etwa: es ist mir egal. Ob Milan Kundera die Diskussion­en in Tschechien mit ähnlicher Gelassenhe­it wahrnimmt?

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Foto: dpa Ein Tscheche in Paris: der Schriftste­ller Milan Kundera.

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