Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Ein ganzer Tag im Schweigen
Ein Redakteur sucht Ruhe, Teil 7
Weil das Leben oft schnell und hektisch ist, möchte unser Medizin-redakteur Markus Bär, 50, das Meditieren lernen. Er hat in Kaufbeuren einen Kurs belegt. In dieser Kolumne berichtet er über seine Erfahrungen.
Zahlen gelten bei Journalisten oft als gefährlich. In ihren Kreisen heißt es immer wieder, dass viele Leser Zahlen nicht mögen – und dann rasch aus dem Text aussteigen. Ich bin der Meinung, dass Journalisten nur deshalb Zahlen für gefährlich erachten, weil sie in Mathematik fast immer absolute Nieten sind.
Als mein Meditationslehrer Thomas Flott uns jüngst eröffnete, dass wir einen kompletten Kurstag im Schweigen verbringen würden, sind mir in diesem Zusammenhang bei der Lektüre eines Buches ein paar beeindruckende Zahlen vor die Füße gefallen – die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Neurowissenschaftler schätzen demnach, dass der Mensch im Schnitt zwischen 50 000 und 70 000 Gedanken am Tag hat. Dass er pro Sekunde elf Millionen Sinneseindrücke aufnimmt, 90 Prozent davon stammen von den Augen – er aber nur maximal 40 davon pro Sekunde bewusst wahrnimmt. Immer noch eine ganze Menge. Das hat mich dann doch ziemlich überrascht. Kein Wunder, dass man sich manchmal überflutet fühlt. Wie würde sich – auch vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse – ein Tag des Schweigens anfühlen?
Viele, die meditieren, schließen die Augen. Nachdem ich nun gelesen habe, wie viele Sinneseindrücke allein über die Augen in mein Gehirn prasseln, ist das ein sehr nachvollziehbarer Vorgang. Damit ist also schon die wichtigste Quelle für Störenfriede des Bewusstseins beseitigt. Doch ein Schweigetag schafft da noch zusätzliche Qualität. Man darf nicht sprechen, das ist klar. Aber man sollte den anderen Kursteilnehmern auch nicht in die Augen schauen. Keine Zeichen geben. Nichts. Möglichst keine Interaktion. Das fühlt sich zu Beginn des Schweigetages etwas seltsam an. Stunde um Stunde wird meditiert. Meine Augen sind dann geschlossen. Zu hören gibt es nur die Anweisungen des Lehrers Thomas Flott. Noch etwas seltsamer wird es, als wir im Schweigen gemeinsam mittagessen. Keiner schaut sich an. Ich fühle mich wie im Speisesaal eines mittelalterlichen Klosters. Es erklingt das Scheppern der Löffel, wenn sie auf die Teller treffen. Und auf einmal höre ich, wie unglaublich laut es sein kann, wenn Menschen essen. Kauen. Herunterschlucken. Meine Wahrnehmungsfähigkeit scheint sich verdoppelt zu haben. Doppelt so gut wie sonst üblich ist auch die wirklich fantastische Lauchcremesuppe. Schmeckt sie doppelt so gut, weil ich schon seit Stunden nichts gesprochen habe?
Als nachmittags gegen vier das Schweigegebot aufgehoben wird, soll ich einer anderen Teilnehmerin erzählen, was ich erlebt habe. Und sie soll von sich erzählen. Und was passiert? Wir schweigen uns fünf Minuten lang an. Viel schneller als erwartet sind die sechs Stunden vorübergegangen. Was ich erlebt habe? Ein Gefühl „zeitloser Gegenwart“. Und doppelt so intensiver Wahrnehmung. Eine eindrucksvolle Erfahrung.