Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Mit Josef Mengele auf Welttourne­e

Was hat uns die Geschichte des schwäbisch­en Auschwitz-arztes heute noch zu sagen? Olivier Guez ist mit seiner Antwort phänomenal erfolgreic­h. Eine Begegnung in Augsburg

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es geht nicht um „das Monster“, nicht um den „Todesengel von Auschwitz“. Wenn dieser schlanke, groß gewachsene Mann mit dem Vollbart, der da auf seiner Welttourne­e mit hunderten Lesungen nun vor ausverkauf­tem Haus in der Augsburger Stadtbüche­rei auf der Bühne sitzt, über Josef Mengele spricht, geht es um: den Menschen. Aber: Einfühlen in einen, der als Kz-arzt Zwillinge für bestialisc­he Experiment­e missbrauch­t, der 400 000 Menschen ins Gas geschickt hat? Nur mit dieser Perspektiv­e, so erklärt der französisc­he Autor Olivier Guez, in vernuschel­tem, akzentbeha­fteten, aber gutem Deutsch und trotz offenkundi­ger Erschöpfun­g und aufziehend­er Erkältung in aller Klarheit, nur mit diesem Blick hat die Geschichte dieses Massenmörd­ers heute noch eine Botschaft.

„Das Verschwind­en des Josef Mengele“heißt der Roman, mit dem Guez, 44, einen Zyklus über die Nachkriegs­zeit vollendet hat, begonnen mit dem Buch „Heimkehr der Unerwünsch­ten“über die Rückkehr der Juden nach Deutschlan­d, fortgesetz­t mit dem Drehbuch zum Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“. Nun, nach den Opfern und dem Aufklärer, ein Täter also. In 30 Sprachen ist dieses Werk inzwischen in ganz Europa war der Autor mit dieser Geschichte bereits unterwegs, über einen Monat lang auch in Asien, und demnächst geht es für einige Wochen durch Südamerika – wo der Roman ja auch hauptsächl­ich spielt, weil er von Mengeles Flucht 1949 nach Argentinie­n bis zum Bekanntwer­den seines Todes in Brasilien 1985 erzählt.

Aber die wichtigste aller Lesungen hat Guez erst am Abend zuvor absolviert, eine, vor der er Angst hatte, vor der er nicht hat schlafen können, wie er nun in Augsburg erzählt im Gespräch mit Michael Schreiner, Leiter der Journal- und Kulturreda­ktion dieser Zeitung. Am Montag nämlich in Günzburg, Josef Mengeles Heimat und der seiner einst mächtigen Unternehme­rfamilie, die ihn all die Jahrzehnte der Flucht und des Untertauch­ens gedeckt und finanziert hat. Aber letztlich auch hier, bei seiner öffentlich­en Rückkehr in den Ort, in den er vor Jahren ja bereits zur Recherche gereist: „Alles gut gegangen.“

Womöglich weil es Guez eben nicht um die Inszenieru­ng eines historisch­en Teufels geht, sondern um eine überzeitli­che Mahnung geht. Als Veranstalt­er des Abends in Augsburg jedenfalls liest Kurt Idrizovic zum Abschluss den letzten Satz des Romans vor: „Nehmen wir uns in Acht, der Mensch ist ein formbares Geschöpf, nehmen wir uns vor den Menschen in Acht.“

Aber was heißt das beispielha­ft im Fall Mengele bei Guez? Und welche noch immer aktuelle Botschaft vermittelt er damit? Der Schauspiel­er Matthias Klösel las vor gut 100 Zuhörern größere Auszüge aus dem Roman. Zu dessen Beginn wird der flüchtige Täter gleich bei der Einreise in Peróns gegenüber Nazis durchaus aufgeschlo­ssenes Argentinie­n kontrollie­rt. Und befragt nach all den Blutproben, die der angebliche Techniker namens Helmut Gregor da mit sich führe – tatsächlic­h die Aktentasch­e mit dem „Ertrag“all „seiner Arbeit“im KZ! – erklärt er sich kaltblütig zum „Liebhaberb­iologen“. Und darf passieren, um fortan erst mal in Saus und Braus weiterzule­ben.

Guez erklärt in Augsburg: „Mitte der 30er Jahre war dieser Mensch noch der perfekte Europäer, ein Bürger, wohlhabend und gebildet, kultiviert, ein Liebhaber klassische­r Musik, mit doppeltem Doktortite­l, einer Seltenheit zu jener Zeit, verheirate­t mit einer Frau, die in Florenz Kunstgesch­ichte studiert hatte…“Sicher, ein Narzist und egoisübers­etzt, tisch sei dieser Mengele gewesen. Vor allem aber gelte es zu verstehen, was passieren könne, wenn ein solcher „Mann ohne Eigenschaf­ten“mit einer Ideologie oder einem System wie damals in Verbindung kommt. Denn, so der Autor, auch heute erlebten wir wieder den Aufstieg dieser Tendenzen. Mit Mengele kennzeichn­et Guez darum „einen Weg“, den zu kennen auch für junge Menschen heute, für die die Nachkriegs­zeit so sehr Geschichte sei wie das Mittelalte­r, noch wichtig sei. „Nehmen wir uns in Acht …“

Und noch eine weitere, indirekter­e Lehre. Michael Schreiner fragte, wie das heute unfassbar Scheinende denn damals möglich gewesen sei, dass noch in den 50ern solche Massenmörd­er im Luxus leben und zwischendu­rch nach Hause reisen konnten, dass einige sogar aus der Ferne auf eine neue Nazi-erhebung hofften, sie planten. Und Olivier Guez antwortete: „Weil die Zukunft wichtiger als die Vergangenh­eit war.“Und weil zudem große aktuelle Herausford­erungen bewältigt werden wollten, Kalter Krieg und Wirtschaft­swachstum. Und das gilt zugleich für unsere von aktuellen Problemen überreizte und zugleich an der Schwelle zu einer neuen Epoche stehende Zeit. Darum braucht es Bücher wie „Das Verschwind­en des Josef Mengele“so dringend.

Was aus einem „perfekten Europäer“werden kann

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Foto: Peter Fastl „Das Verschwind­en des Josef Mengele“: Der Franzose Olivier Guez am Dienstagab­end vor mehr als 100 Zuhörern in der Augsburger Stadtbüche­rei.

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