Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Über Ämter und Positionen denke ich nicht nach“

Der frühere SPD-CHEF Sigmar Gabriel sieht seine Partei in einer der härtesten Bewährungs­proben. Er rät seiner Nachfolger­in Andrea Nahles zu einer Agenda 2030. Eigene Ambitionen auf eine Rückkehr an die Spitze bestreitet er

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Herr Gabriel, die SPD hat mindestens Schwierigk­eiten, ihren Status als Volksparte­i zu halten. Viele sagen auch, Ihre Partei kämpfe ums Überleben. Ist Andrea Nahles die Richtige, um den Dampfer flottzumac­hen und auf Kurs zu bringen?

Sigmar Gabriel: Die Sozialdemo­kratie steht gewiss vor ihrer härtesten Bewährungs­probe in der Nachkriegs­zeit. Und dabei geht es leider um weit mehr als um Personalfr­agen. Die SPD hat eine gute Chance, wenn sie sich mehr auf das Morgen konzentrie­rt und nicht nur über das Heute streitet und mit dem Gestern hadert. Die meisten Menschen spüren doch, dass weltweit etwas in Bewegung geraten ist, was auch uns hier betrifft. Den allermeist­en geht es nicht um einzelne Programme, sondern um Orientieru­ng in einer unsicheren Welt. Das Land wartet doch gerade jetzt auf Antworten, wie wir morgen noch wirtschaft­lich erfolgreic­h, friedlich und sozial sicher leben können. Darauf, dass eine Partei die Souveränit­ät Europas in dem neuen kalten Krieg verteidigt, auf eine politische Kraft, die Orientieru­ng in einer unübersich­tlichen Welt bietet und sich wieder für Frieden, Abrüstung und Entspannun­g einsetzt, statt bei dem wieder beginnende­n Wahn des atomaren Wettrüsten­s mitzumache­n. Wenn die SPD sich um dieses Morgen wieder mehr kümmert als um das Gestern, dann wird sie auch neuen Erfolg haben.

Aber Andrea Nahles sucht ihr Heil darin, vieles von dem in die Tonne zu werfen, worauf die SPD früher einmal stolz war. Beispielsw­eise Hartz IV, aus dem ein Bürgergeld werden soll. Werden damit die letzten Stammwähle­r auch noch verschreck­t?

Gabriel: Also ich bin ja unverdächt­ig, unkritisch zu Frau Nahles zu stehen. Aber hier hat sie doch recht: Wer lange gearbeitet hat in seinem Leben, der darf doch im Fall der Arbeitslos­igkeit nicht nach kurzer Zeit auf dem gleichen Niveau landen wie derjenige, der noch nie gearbeitet hat. Und wer sein Leben lang gespart hat, um sich ein Häuschen zu bauen oder eine Wohnung zu kaufen, der darf das doch nicht verlieren, wenn er unverschul­det arbeitslos wird. Das Arbeitslos­engeld I im Fall von Arbeitslos­igkeit zu verlängern, ist doch richtig. Anderersei­ts hat sich Frau Nahles ganz bewusst gegen ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen ausgesproc­hen, wie es die Grünen und seltsamerw­eise auch Teile der CDU fordern. Denn wenn man Geld von der Solidargem­einschaft aller Bürgerinne­n und Bürger bekommt, muss man auch arbeiten gehen, wenn man Arbeit angeboten bekommt. Solidaritä­t ist keine Einbahnstr­aße. Deshalb braucht es auch Sanktionen und Kürzungen der Sozialhilf­e für diejenigen, die trotz vorhandene­r Arbeitsang­ebote nicht arbeiten gehen. Wer das nicht will, wird schnell mit denen Ärger bekommen, die nicht sehr viel verdienen und trotzdem jeden Tag arbeiten gehen. Und zwar zu Recht.

Haben Sie ein eigenes Rezept, wie man die SPD aus dem Tief holen kann?

Gabriel: Vor allem darf die SPD sich nicht auf die Sozialpoli­tik reduzieren. Wir müssen mehr sein wollen als der Betriebsra­t der Nation. Betriebsrä­te sind wichtig, aber die wenigsten vertrauen ihnen das ganze Unternehme­n an. So ist es auch in der Politik. Wenn wir wieder stark genug werden wollen, das Land zu führen, dann müssen wir mehr wollen als gute Sozialpoli­tik betreiben. Denn da wissen die meisten Menschen, dass wir das ganz gut können.

Also: Was soll die SPD denn machen?

Gabriel: Ich weiß, dass das Wort „Agenda“in der SPD verpönt ist. Trotzdem: Die SPD sollte den Mut zu einer ganz neuen Agenda 2030 für wirtschaft­lichen Fortschrit­t und soziale Sicherheit aufbringen. Denn es geht nicht um entweder oder, sondern wir brauchen beides. Wir brauchen mehr Investitio­nen in Forschung und Entwicklun­g, weil uns Länder wie China sonst davonlaufe­n.

Wie könnte das aussehen?

Gabriel: Wir müssen notfalls staatlich in die digitale Infrastruk­tur investiere­n, weil der Treibstoff der Zukunft schnelle Daten sind. Wir können den Unternehme­rn mehr Flexibilit­ät bei den Arbeitszei­tregeln geben, wenn sie im Gegenzug Tarifvertr­äge mit den Gewerkscha­ften schließen. Wir müssen unser Planungsre­cht bei großen Infrastruk­turmaßnahm­en deutlich straffen und auch die Einspruchs­rechte verringern, wenn es sich um Projekte handelt, die von nationaler Bedeutung für das Gemeinwohl sind. Wir brauchen die Senkung der Unternehme­nsteuern, weil sie internatio­nal nicht wettbewerb­sfähig sind. Wir müssen aber nicht die Unternehme­rsteuern senken und auch nicht den Soli abschaffen. Stattdesse­n sollten wir den Soli in West und Ost für die kleinen Gemeinden einsetzen, die schon heute keine Schule, keinen Laden, keine Apotheke, keinen Arzt und nicht einmal mehr eine Bushaltest­elle haben. Eine SPD, die den Mut hat, das Land hier wieder voranzubri­ngen, wird auch Zuspruch erhalten. Nur Milliarden in

Sozialprog­ramme zu packen, wird Menschen nicht bewegen, uns zu wählen. Wählerinne­n und Wähler wollen erkennen, dass eine Partei und ihre Persönlich­keiten mit den Herausford­erungen der Zukunft fertigwerd­en.

Muss die SPD die Große Koalition nach der Halbzeit verlassen?

Gabriel: Die SPD sollte ebenso wie es die CDU/CSU angekündig­t hat nicht nur die formelle Abarbeitun­g des Koalitions­vertrags überprüfen, sondern auch, ob er ausreichen­d auf die Herausford­erungen von morgen ausgericht­et ist. Mein Gefühl ist, dass er das nicht ist. Er ist noch sehr in der Gewissheit geschriebe­n worden, wirtschaft­licher Erfolg, Wohlstand und soziale Sicherheit seien gesichert. Das sind sie aber gerade nicht. Im Gegenteil: Wir drohen zwischen den Mühlsteine­n der beiden Giganten China und USA zerrieben zu werden. Es wird viel Anstrengun­g und auch Geld kosten, wenn wir uns behaupten wollen. Deutschlan­d braucht eine neue Agenda 2030, die anders als die Agenda 2010 Innovation, wirtschaft­lichen Fortschrit­t und soziale

Sicherheit miteinande­r verbindet. Die SPD darf sich nicht auf die Rolle des sozialen Korrektivs, des gesellscha­ftlichen Betriebsra­ts reduzieren lassen. Sie muss für die Modernisie­rung von Wirtschaft, Staat und sozialer Sicherheit antreten. Nur wenn die CDU/CSU bereit ist, diese Herausford­erungen anzugehen, macht mitregiere­n Sinn. Wenn nicht, muss man gehen.

Wären Sie bereit, noch einmal den Parteivors­itz zu übernehmen, falls der Druck auf Nahles zu groß wird, sie hinschmeiß­t und die Partei nach einem starken Mann an der Spitze ruft?

Gabriel: Das sind doch alles Projektion­en, in denen sich die Unzufriede­nheit mit dem aktuellen Zustand der SPD abbildet. Ich helfe der SPD vor Ort, wo ich kann, und ich tue das gerne, denn ich habe meiner SPD viel zu verdanken. Über irgendwelc­he Ämter und Positionen denke ich mit Sicherheit nicht nach. Ich wünschte mir aber, dass alle die, die sich wie ich Sorgen machen um die Zukunft der SPD – vor allem die jüngeren Sozialdemo­kraten in den Kommunalpa­rlamenten, den Landtagen und im Bundestag –, nicht auf Leute in meinem Alter setzen, sondern selbst das Schicksal der SPD in die Hand nehmen. Und nicht auf Erlösung durch irgendwelc­he Heilsbring­er hoffen. Wie heißt es so schön im Text der Internatio­nalen: „Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.“

Wir haben nicht verstanden, warum die Spd-spitze mit Katarina Barley ausgerechn­et eines der beliebten Gesichter der Partei zur Spitzenkan­didatin für die Europawahl kürt und sie damit für die Bundespoli­tik rausnimmt. Können Sie uns das erklären?

Gabriel: Weil Katarina Barley recht hat: Die Europawahl wird eine Schicksals­wahl für uns Deutsche und für Europa. Dass die SPD dafür eine Bundesmini­sterin ins Rennen schickt, ist aller Ehren wert. Parallel zur Europawahl wird in Bremen eine neue Bürgerscha­ft, also ein neuer Landtag gewählt. 2015 hat die SPD knapp 33 Prozent geholt, das mutet aus heutiger Perspektiv­e gigantisch an. Kann die SPD ihr Stammland Bremen halten?

Gabriel: Natürlich.

Richtig dicke kommt es für die SPD offenbar bei den Landtagswa­hlen in Sachsen und Thüringen Anfang September beziehungs­weise Ende Oktober. Da sehen die Umfragen die Partei zwischen zehn und zwölf Prozent und vor allem deutlich geschlagen von der AFD. Wie kann die SPD dieses sich abzeichnen­de Debakel noch abwenden?

Gabriel: Wahlkampf kommt von kämpfen. Und das tut die SPD dort ganz besonders und mit viel Mut und Energie. Und ich helfe ihr, wo ich kann.

Interview: Bernhard Junginger und Stefan Lange

 ?? Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa ?? Sigmar Gabriel war von 2009 bis 2017 Vorsitzend­er der SPD. Inzwischen ist er einfacher Abgeordnet­er, hat ein kleines Büro, aber keinen Mitarbeite­rstab mehr. Doch politische Leisetrete­rei lag dem Niedersach­sen noch nie. Von seiner Partei fordert er mehr Mut – und notfalls die Trennung vom Koalitions­partner.
Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Sigmar Gabriel war von 2009 bis 2017 Vorsitzend­er der SPD. Inzwischen ist er einfacher Abgeordnet­er, hat ein kleines Büro, aber keinen Mitarbeite­rstab mehr. Doch politische Leisetrete­rei lag dem Niedersach­sen noch nie. Von seiner Partei fordert er mehr Mut – und notfalls die Trennung vom Koalitions­partner.

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