Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Und sie bewe
Lange galten die Deutschen als protestfaul. Inzwischen mehrt sich die öffentlich auf die Straße. Für Experten ist das ein Zeichen für Krisen in der Gesellschaft. Doc
Montagabend in Stuttgart. Punkt 18 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung. „Obenbleibenobenbleiben“, tönt es so gleichmäßig wie unermüdlich aus der Menge, die sich ihren Weg vorbei an Menschen mit Einkaufstüten und Feierabendnachhausehetzern bahnt. Es ist das Mantra der Unerhörten, die Dauerschleife der Widerborstigen. Oben bleiben – das rufen seit neun Jahren die Stuttgart-21-gegner. 450 Mal schon sind sie gegen den Tiefbahnhof auf die Straße gegangen. Deutschlands umstrittenste Baustelle ist längst ein Millionengrab. Zumindest den Finger in die offene Wunde legen wollen die Protestler.
Die Eifel in einer kalten Oktobernacht. Die Demonstranten rennen über die Autobahn, vorbei an Hundertschaften und Wasserwerfern der Polizei. Es geht einen steilen Hang hinunter. Zweitausend weiß gekleidete Menschen setzen sich dann, johlend wie ein Schwarm Möwen, auf die Gleise des Stromkonzerns RWE, die den Braunkohle-tagebau Hambach mit Kraftwerken verbinden. Unterdessen liefern sich Mitstreiter einen regelrechten Kampf mit der Staatsmacht um besetzte Baumhäuser im Forst. Bis in die schafft es der Aufstand der Umweltschützer.
Ein Herbsttag in München, es regnet in Strömen. Ein Protestzug schiebt sich durch die Landeshauptstadt. Trachtler sind dabei, Nonnen, viele, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Der Königsplatz gleicht einem Menschenmeer. Die Organisatoren sprechen von 50000 Demonstranten, die Polizei sagt, es sind 25 000 – am Ende ist die genaue Zahl egal, denn klar ist: Es sind viele. „Ausgehetzt: Gemeinsam gegen eine Politik der Angst“, heißt ihr Motto. Sie demonstrieren gegen die zur Pöbelei verkommene Sprache von Politikern wie Horst Seehofer, Markus Söder und Alexander Dobrindt. Für den Soundtrack dieses Tages sorgt die Band „Dreiviertelblut“. „Es regnet und es wird kalt, i spür’, wie d’welt auseinanderfallt“, heißt es in ihrem Song „Mia san ned nur mia“.
Freitagvormittag auf dem Augsburger Rathausplatz. Trillerpfeifen schrillen. 1500 Schüler drängen sich zusammen. „Taten statt Worte“, fordern sie – und zwar laut. Dass sie gerade in der Schule sitzen müssten und ihnen im schlimmsten Fall ein Verweis droht? Egal! In ganz Bayern schwänzen Kinder und Jugendliche den Unterricht, um für Klimaschutz zu demonstrieren. „Es gibt keinen Plan B für unsere Welt und deshalb stehen wir hier“, ruft Veranstalter Flo ins Mikro. Motiviert werden die Teilnehmer von der 16-jährigen schwedischen Schülerin Greta Thunberg. Sie gilt als europäisches Gesicht eines Aufbruchs ihrer Generation,
New York Times
sie den ganz Großen bei der Weltklimakonferenz trotzig entgegentrat: „Niemand ist zu klein, um den Unterschied zu machen.“
Vier Orte, vier Anliegen – und doch stehen sie für einen gesellschaftlichen Wesenszug, den man den Deutschen lange abgesprochen hat: Politische Einmischung durch Ungehorsam und Widerstand. England hat seine Sozialrebellen, in Frankreich fackelt das Volk schon mal Barrikaden ab. Und in Deutschland? Da schienen die wilden Jahre vorbei. Die Deutschen, so das gängige Vorurteil, retten lieber erst mal sich selbst, als gleich die ganze Welt in Angriff zu nehmen. Protestfaul, lautete die Diagnose. Ausgelöst durch lang anhaltenden und damit irgendwie auch lähmenden Wohlstand. Doch inzwischen munkelt selbst Finanzminister Olaf Scholz über die zunehmende Renitenz und den Trend zur Konfrontation: „Es gibt auch in Deutschland ein nicht zu unterschätzendes Gelbwesten-potenzial“, sagte der stellvertretende Spd-vorsitzende kürzlich in einem Interview und warnte: „Solche Entwicklungen sollte niemand ignorieren.“Gibt es eine Renaissance der Demo?
Schon im Jahr 2013 prognostizierte der Sozialwissenschaftler Franz Walter: „Spätestens zwischen 2015 und 2035 werden sich hunderttausende hoch motivierter und rüstiger Rentner mit dem gesamten Rüstzeug der in den Jugendjahren reichlich gesammelten Demonstrationserfahrungen in den öffentlich vorgetragenen Widerspruch begeben.“Das Altern der Republik werde also keineswegs zu Gleichgültigkeit in den öffentlichen Angelegenheiten führen. Walter sollte recht behalten. Omas gegen Rechts, Unteilbar, Ausgehetzt, Pulse of Europe, Pegida, Wir sind Chemnitz. Gegen Stromtrassen, für bessere Bildung, gegen Feinstaub. Allein in Berlin, der deutschen Protesthauptstadt, sind Jahr für Jahr um die 5000 Kundgebungen angemeldet – das sind im Schnitt mehr als 13 pro Tag. Sogar die früher als unpolitisch geltende Schlagersängerin Helene Fischer schloss sich dem Anti-rechts-slogan „Wir sind mehr“an. Der Politik, so scheint es, will man die alleinige Deutungshoheit nicht mehr überlassen. Misstrauensgesellschaft nennt die Wissenschaft das, was sich in der Meuterei der Masse entlädt.
„Protest ist immer ein Indikator von Krisen in der Gesellschaft. Er macht auf Defizite der gesellschaftlichen Debatte, auf Probleme und Fragen, die uns alle beschäftigen, aufmerksam“, sagt Philipp Gassert. „Er ist eine Notbremse.“Der Historiker und Protestforscher von der Universität Mannheim hat mit dem Buch „Bewegte Gesellschaft“die erste umfassende Untersuchung der deutschen Protestkultur seit 1945 ausgearbeitet. Erst wenn die Menschen das Gefühl hätten, dass ihre Belange von den politischen Repräsentanten nicht genügend beachtet würden, gingen sie auf die Straße. „Darin sehe ich auch die wichtigste Funktion von Protest.“Wenn die Deutschen schon mal demonstrieren, dann meist bei den ganz großen Themen, etwa beim Anti-braunkohleprotest im Hambacher Forst für die Zukunft des Planeten. Oder es sind Dinge vor der Haustür, Bauvorhaben oder Mieten. In Frankfurt am Main hieß es bei einer Demo von 5000 Leuten „Keine Profite mit der Miete“und „Miethaie zu Fischstäbchen“. Sprüche wie zu Sponti-zeiten. „Protest lebt von der radikalen Vereinfachung, von der Zuspitzung, er braucht keinen Kompromiss“, sagt Gassert. „Nur so ist er wirksam.“
Doch was heißt überhaupt wirksam? Können die so angestoßenen Demonstrationen, wie andeutet, in eine „globale gesellschaftliche Bewegung“münden? Dass Großaktionen nicht schnellen Erfolg bedeuten, mussten Teilnehmer der Anti-waffen-proteste in den USA 2018 erleben. Um ihre Organisation March For Our Lives ist es ein Jahr nach der Gewalttat stiller geworden. Der zitierte David Hogg, der den Schulüberfall miterlebte, mit der Meinung, Veränderungen dauerten länger, als ihnen lieb sei. Ähnliches erzählt der Jung-aktivist Anand Chitnis, 15, aus Rockville, Maryland: „Leider ist der Schwung hinter der Bewegung March For Our Lives definitiv abgeklungen.“Doch im Us-parlament sehe er einen Wandel. Und genau an diesem Punkt gibt ihm auch der Experte recht. „Wenn man Demonstrationen daran messen würde, ob sie ihr eigentliches Ziel erreicht haben, wäre das Ergebnis äußerst frustrierend“, sagt Philipp Gassert. Denn das missglücke fast immer: „Die Friedensbewegung der 80er Jahre hat nicht verhindert, dass die Nato-raketen stationiert wurden. Stuttgart 21 wird gebaut. Atomkraftwerke wurden nicht abgerissen.“Doch gerade mit dem langen Blick des Hisseit
Stern
Die
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