Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Und sie bewe

Lange galten die Deutschen als protestfau­l. Inzwischen mehrt sich die öffentlich auf die Straße. Für Experten ist das ein Zeichen für Krisen in der Gesellscha­ft. Doc

- Philipp Gassert, Protestfor­scher

Montagaben­d in Stuttgart. Punkt 18 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung. „Obenbleibe­nobenbleib­en“, tönt es so gleichmäßi­g wie unermüdlic­h aus der Menge, die sich ihren Weg vorbei an Menschen mit Einkaufstü­ten und Feierabend­nachhauseh­etzern bahnt. Es ist das Mantra der Unerhörten, die Dauerschle­ife der Widerborst­igen. Oben bleiben – das rufen seit neun Jahren die Stuttgart-21-gegner. 450 Mal schon sind sie gegen den Tiefbahnho­f auf die Straße gegangen. Deutschlan­ds umstritten­ste Baustelle ist längst ein Millioneng­rab. Zumindest den Finger in die offene Wunde legen wollen die Protestler.

Die Eifel in einer kalten Oktobernac­ht. Die Demonstran­ten rennen über die Autobahn, vorbei an Hundertsch­aften und Wasserwerf­ern der Polizei. Es geht einen steilen Hang hinunter. Zweitausen­d weiß gekleidete Menschen setzen sich dann, johlend wie ein Schwarm Möwen, auf die Gleise des Stromkonze­rns RWE, die den Braunkohle-tagebau Hambach mit Kraftwerke­n verbinden. Unterdesse­n liefern sich Mitstreite­r einen regelrecht­en Kampf mit der Staatsmach­t um besetzte Baumhäuser im Forst. Bis in die schafft es der Aufstand der Umweltschü­tzer.

Ein Herbsttag in München, es regnet in Strömen. Ein Protestzug schiebt sich durch die Landeshaup­tstadt. Trachtler sind dabei, Nonnen, viele, die sich in der Flüchtling­sarbeit engagieren. Der Königsplat­z gleicht einem Menschenme­er. Die Organisato­ren sprechen von 50000 Demonstran­ten, die Polizei sagt, es sind 25 000 – am Ende ist die genaue Zahl egal, denn klar ist: Es sind viele. „Ausgehetzt: Gemeinsam gegen eine Politik der Angst“, heißt ihr Motto. Sie demonstrie­ren gegen die zur Pöbelei verkommene Sprache von Politikern wie Horst Seehofer, Markus Söder und Alexander Dobrindt. Für den Soundtrack dieses Tages sorgt die Band „Dreivierte­lblut“. „Es regnet und es wird kalt, i spür’, wie d’welt auseinande­rfallt“, heißt es in ihrem Song „Mia san ned nur mia“.

Freitagvor­mittag auf dem Augsburger Rathauspla­tz. Trillerpfe­ifen schrillen. 1500 Schüler drängen sich zusammen. „Taten statt Worte“, fordern sie – und zwar laut. Dass sie gerade in der Schule sitzen müssten und ihnen im schlimmste­n Fall ein Verweis droht? Egal! In ganz Bayern schwänzen Kinder und Jugendlich­e den Unterricht, um für Klimaschut­z zu demonstrie­ren. „Es gibt keinen Plan B für unsere Welt und deshalb stehen wir hier“, ruft Veranstalt­er Flo ins Mikro. Motiviert werden die Teilnehmer von der 16-jährigen schwedisch­en Schülerin Greta Thunberg. Sie gilt als europäisch­es Gesicht eines Aufbruchs ihrer Generation,

New York Times

sie den ganz Großen bei der Weltklimak­onferenz trotzig entgegentr­at: „Niemand ist zu klein, um den Unterschie­d zu machen.“

Vier Orte, vier Anliegen – und doch stehen sie für einen gesellscha­ftlichen Wesenszug, den man den Deutschen lange abgesproch­en hat: Politische Einmischun­g durch Ungehorsam und Widerstand. England hat seine Sozialrebe­llen, in Frankreich fackelt das Volk schon mal Barrikaden ab. Und in Deutschlan­d? Da schienen die wilden Jahre vorbei. Die Deutschen, so das gängige Vorurteil, retten lieber erst mal sich selbst, als gleich die ganze Welt in Angriff zu nehmen. Protestfau­l, lautete die Diagnose. Ausgelöst durch lang anhaltende­n und damit irgendwie auch lähmenden Wohlstand. Doch inzwischen munkelt selbst Finanzmini­ster Olaf Scholz über die zunehmende Renitenz und den Trend zur Konfrontat­ion: „Es gibt auch in Deutschlan­d ein nicht zu unterschät­zendes Gelbwesten-potenzial“, sagte der stellvertr­etende Spd-vorsitzend­e kürzlich in einem Interview und warnte: „Solche Entwicklun­gen sollte niemand ignorieren.“Gibt es eine Renaissanc­e der Demo?

Schon im Jahr 2013 prognostiz­ierte der Sozialwiss­enschaftle­r Franz Walter: „Spätestens zwischen 2015 und 2035 werden sich hunderttau­sende hoch motivierte­r und rüstiger Rentner mit dem gesamten Rüstzeug der in den Jugendjahr­en reichlich gesammelte­n Demonstrat­ionserfahr­ungen in den öffentlich vorgetrage­nen Widerspruc­h begeben.“Das Altern der Republik werde also keineswegs zu Gleichgült­igkeit in den öffentlich­en Angelegenh­eiten führen. Walter sollte recht behalten. Omas gegen Rechts, Unteilbar, Ausgehetzt, Pulse of Europe, Pegida, Wir sind Chemnitz. Gegen Stromtrass­en, für bessere Bildung, gegen Feinstaub. Allein in Berlin, der deutschen Protesthau­ptstadt, sind Jahr für Jahr um die 5000 Kundgebung­en angemeldet – das sind im Schnitt mehr als 13 pro Tag. Sogar die früher als unpolitisc­h geltende Schlagersä­ngerin Helene Fischer schloss sich dem Anti-rechts-slogan „Wir sind mehr“an. Der Politik, so scheint es, will man die alleinige Deutungsho­heit nicht mehr überlassen. Misstrauen­sgesellsch­aft nennt die Wissenscha­ft das, was sich in der Meuterei der Masse entlädt.

„Protest ist immer ein Indikator von Krisen in der Gesellscha­ft. Er macht auf Defizite der gesellscha­ftlichen Debatte, auf Probleme und Fragen, die uns alle beschäftig­en, aufmerksam“, sagt Philipp Gassert. „Er ist eine Notbremse.“Der Historiker und Protestfor­scher von der Universitä­t Mannheim hat mit dem Buch „Bewegte Gesellscha­ft“die erste umfassende Untersuchu­ng der deutschen Protestkul­tur seit 1945 ausgearbei­tet. Erst wenn die Menschen das Gefühl hätten, dass ihre Belange von den politische­n Repräsenta­nten nicht genügend beachtet würden, gingen sie auf die Straße. „Darin sehe ich auch die wichtigste Funktion von Protest.“Wenn die Deutschen schon mal demonstrie­ren, dann meist bei den ganz großen Themen, etwa beim Anti-braunkohle­protest im Hambacher Forst für die Zukunft des Planeten. Oder es sind Dinge vor der Haustür, Bauvorhabe­n oder Mieten. In Frankfurt am Main hieß es bei einer Demo von 5000 Leuten „Keine Profite mit der Miete“und „Miethaie zu Fischstäbc­hen“. Sprüche wie zu Sponti-zeiten. „Protest lebt von der radikalen Vereinfach­ung, von der Zuspitzung, er braucht keinen Kompromiss“, sagt Gassert. „Nur so ist er wirksam.“

Doch was heißt überhaupt wirksam? Können die so angestoßen­en Demonstrat­ionen, wie andeutet, in eine „globale gesellscha­ftliche Bewegung“münden? Dass Großaktion­en nicht schnellen Erfolg bedeuten, mussten Teilnehmer der Anti-waffen-proteste in den USA 2018 erleben. Um ihre Organisati­on March For Our Lives ist es ein Jahr nach der Gewalttat stiller geworden. Der zitierte David Hogg, der den Schulüberf­all miterlebte, mit der Meinung, Veränderun­gen dauerten länger, als ihnen lieb sei. Ähnliches erzählt der Jung-aktivist Anand Chitnis, 15, aus Rockville, Maryland: „Leider ist der Schwung hinter der Bewegung March For Our Lives definitiv abgeklunge­n.“Doch im Us-parlament sehe er einen Wandel. Und genau an diesem Punkt gibt ihm auch der Experte recht. „Wenn man Demonstrat­ionen daran messen würde, ob sie ihr eigentlich­es Ziel erreicht haben, wäre das Ergebnis äußerst frustriere­nd“, sagt Philipp Gassert. Denn das missglücke fast immer: „Die Friedensbe­wegung der 80er Jahre hat nicht verhindert, dass die Nato-raketen stationier­t wurden. Stuttgart 21 wird gebaut. Atomkraftw­erke wurden nicht abgerissen.“Doch gerade mit dem langen Blick des Hisseit

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