Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Dieser wunderliche Clemens J. Setz
„Wie alle Menschen begegnete Zweigl jedes Jahr seinem zukünftigen Todesdatum, ohne es zu wissen. Er glitt darüber hinweg wie der klappernde Haken über die Felder eines Glücksrads.“Solche Gedanken sind es. Und solche Bilder: „Hagel. Kleine, springende Popcornzähne auf den Fensterbrettern.“Vor allem aber bleiben es die Menschen, von denen Clemens J. Setz erzählt, die seinen Büchern diese Wunderlichkeit verleihen und sie so im Wortsinn wundervoll machen.
Das war bei Romanen wie „Indigo“und „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, aber auch zuletzt bei „Bot: Gespräch ohne Autor“, einem literarischen Selbstporträt. Heißt: Der jetzt 36-jährige Grazer, der bereits vor zehn Jahren aufsehenerregend debütierte, ist freilich selber ein Kauz. Wer noch eines Beweises bedurfte, lese die Erzählungen in „Trost der runden Dinge“. Ein Junge, der im Sex-schuppen eine anzügliche Annonce mit seiner Telefonnummer hinterlässt, um den Anrufern dann eine Fantasiegeschichte über sich und seine Mutter zu erzählen. Oder eben Zweigl, dieser von Angstzuständen gequälte, alleinerziehende zweifache Vater, der Trost nur aus dem Verbrennen von Geldscheinen gewinnt… Irres Zeug, hohe Dosis. S. Fischer, 240 Seiten,
20 Euro
Wolfgang Schütz
Clemens J. Setz: Der Trost runder Dinge Suhrkamp, 320 Seiten, 24 Euro
Die Zeit vergeht, das Leben läuft, wie es läuft – vor allem läuft es ab. Und irgendwann verschwindet jeder, nimmt seine Erinnerungen und Träume mit. Und die Welt dreht sich weiter. Bleibt bevölkert von Existenzen, die die „Schwere der angesammelten Jahre“fühlen, die aus Zufällen zusammenfügen, was sie für ihre Biografie halten. Hinter jedem Fenster, in jeder U-bahn gibt es einzigartige Geschichten, die wir nie erfahren.
Melancholie ist die Grundmelodie dieses Buches – und der Erzähler Matthias Navrat ist „der traurige Gast“, der in Berlin geduldig wie ein Beichtvater Lebensgeschichten und Lebensbetrachtungen anderer hört und sie lakonisch abgleicht mit dem Blick aufs eigene Dasein. Dazwischen dichter Berliner Alltag.
Wer sich auf den Stoff anderer Leben einlässt, wird hin- und hergerissen zwischen Trauer und Euphorie. Dieses Buch erzählt davon, von Überdruss und Kummer und von der Lust auf Welt und Leben. Der namenlose Erzähler, Schriftsteller in der Schreibkrise, schleudert einmal seinem Gegenüber entgegen: „Du hast nichts zu erwarten, sagte ich. Niemand hat etwas zu erwarten. Die Leute sterben zufällig, so zufällig, wie sie eben geboren wurden.“Doch auf der anderen Seite ist da diese Gier auf Leben. Die Freude „darüber, dass diese Stadt funktionierte. Und dass in ihr alle die Leute lebten, in all den Straßen und in all den Stadtvierteln.“
Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg. Er studierte Biologie und dann am Literaturinstitut in Biel. Nawrat hat bislang drei Romane veröffentlicht. Eckdaten seiner Biografie identifizieren ihn als jenen namenlosen Schriftsteller, der mit seiner Frau Veronika in Berlin lebt.
So wie Nawrat selbst kommen auch die wichtigsten Protagonisten des Romans aus Polen. Sie sind irgendwann wie der Autor im offenen Raum Berlin gelandet. Da ist die Architektin Dorota, die dem „Gast“in mehreren „Sitzungen“in ihrer Wohnung ihr Leben erzählt. Diese Erinnerungen, die bis in die Kriegsjahre in Polen und die Verbrechen an den Juden zurückreichen, überlagern den eigentlichen Grund, warum der Erzähler die Architektin ursprünglich aufgesucht hat: Sie soll Pläne für die Umgestaltung seiner Wohnung machen. Doch der Sog der Lebensbeichte lässt alles andere in den Hintergrund treten – und der Besucher kann gar nicht anders, als immer wieder bei Dorota zu erscheinen. Bis eines Tages die Wohnung leer steht …
Auch Dariusz, ein alkoholkranker ehemaliger Arzt aus Lublin, den der Schriftsteller als Kollegen kennenlernt, als er einen Aushilfsjob an einer Tankstelle angenommen hat, zieht den Erzähler durch seine in Polen wurzelnde Lebensgeschichte in Bann. Es ist eine Geschichte von Irrtum, kaputter Ehe und dem Tod des einzigen Sohnes, der als Aussteiger in Bolivien ertrunken ist. Wie Nawrat Dariusz’ lange Reise zum Todesort seines Sohnes schildert, wie er Kalifornien, Mexiko, Bolivien beschreibt – das gehört zu den stärksten Kapiteln dieses ansonsten in Berlin verorteten Romans.
Ruhig und distanziert erforscht Matthias Nawrat dort in kurzen und längeren Kapiteln, was unsere Existenz ausmacht, wie jedes Individuum Aspekte des allgemeinen Menschseins verkörpert. Nawrat probiert Geschichten an wie Kleider. „Ich konnte an nichts anderes denken als an andere Menschen, an andere Leben, die ich leben wollte.“Wir treiben mit dem Autor durch das Berlin von heute, das in diesem Roman mehr ist als nur Kulisse. Es ist der Nährboden, auf dem die Geschichten gedeihen. Nawrat erzählt vom Unbehagen auf den Straßen nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, er führt uns in Kirchen, Kneipen, Friedhöfe und ein Forschungslabor, wo ein ehemaliger Studienkollege, den der Erzähler zufällig wiedertrifft, arbeitet. Wir lesen eine Mischung aus Tagebuch und Fiktion.
Jeder Andere ist eine Erzählung, die etwas mit unserem eigenen Leben zu tun hat. Lebensläufe, Sinnkrisen, Prägungen durch andere: Darum kreisen die Geschichten, die der „traurige Gast“hört – Literatur, getränkt mit dem Wissen um Vergänglichkeit. Überall. „In der Wohnung roch es nach etwas, das ich kannte. Ich meinte, es sei der Geruch alter Bücher, deren Papier in Zeiten hergestellt und umgeblättert worden war, die schon lange vergangen waren.“Einmal lässt der Erzähler Dariusz sagen: „Mich packte das Grauen, wie viele Menschen es waren, die ich niemals kennenlernen würde und auch nicht kennenlernen wollte.“Das Leben ist niemals auserzählt.
Michael Schreiner
Matthias Nawrat: Der traurige Gast Rowohlt,
304 Seiten,
22 Euro