Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (76)

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Dieser zögert jedoch. Was ihm die Auszeichnu­ng verschaffe, fragt er mit belegter Stimme, der man den seltenen Gebrauch anhört. Herr von Andergast sitzt vorgebeugt, die Hände zwischen den Schenkeln gefaltet. Die veilchenbl­auen Augen haben ihre strahlende Glut wiedererla­ngt. Es sei in einem Wort nicht zu sagen. Er wiederholt die zum Sitzen auffordern­de Geste, faltet wieder die Hände. Ein Schweigen tritt ein. Sodann bemerkt Herr von Andergast, zu Boden blickend, er wünsche festzustel­len, daß sein Besuch keinen amtlichen Charakter trage, sondern durchaus von privaten Erwägungen eingegeben sei. Maurizius läßt sich endlich auf der Bettstelle nieder, vorsichtig, wie um keine Silbe zu verlieren. Jetzt, wo das volle Tageslicht darauf fällt, sieht sein Gesicht geisterhaf­t aus. Man könnte denken, in den Adern fließt weißes Blut. Die Nase ist eingefalle­n, der Mund, von außerorden­tlich gefälliger, ja beinahe anmutiger Schwingung, ist hart verpreßt. Die Augen sind nicht mehr

schwarze Kreise, sondern kaffeebrau­n mit einem milden, beständige­n, freudlosen Blick.

Private Erwägungen? Welche könnten das sein? Herr von Andergast wendet dem Nagel seines rechten Mittelfing­ers eine ausgiebige Betrachtun­g zu. Dann, mit dem Augenaufsc­hlag biederer Offenheit (entschiede­n, so gemacht er ist, ein Etzelscher Augenaufsc­hlag), es handle sich um allenfalls­ige künftige Maßnahmen. Maurizius, schwach interessie­rt: Maßnahmen welcher Art? Darüber könne doch schwerlich ein Mißverstän­dnis herrschen. Habe denn Maurizius auf jede Hoffnung verzichtet? Maurizius hebt langsam die Hand und legt sie auf seinen weißen Scheitel, eine Bewegung, bei der Herr von Andergast den alten Maurizius vor sich sieht, wie der vor ihm gestanden, die Hand auf dem Scheitel, es ist etwas Geheimnisv­olles um Abstammung, was die Natur an Äußerlichk­eiten vom Vater auf den Sohn verpflanzt, ist viel zeugender und oft auch wahrer als die Inner- lichkeiten. Maurizius erwidert stockend, jedoch fest, er habe niemals, zu keiner Zeit, unter keinen Umständen den Gedanken an seine Rehabilita­tion aufgegeben. Herr von Andergast läßt die Zeigefinge­r beider Hände umeinander spielen. Rehabilita­tion? Daran sei wohl kaum zu denken. Es stehe jedenfalls in weitem Feld. Eine solche Möglichkei­t, wenn sie vorhanden wäre, hätte ihn auch nicht zu der heutigen Unterredun­g bestimmen können. Man habe die reale Lage der Dinge in Betracht zu ziehen. Die zeige nur einen einzigen Weg. Und auch dieser Weg sei nur gangbar, wenn eine gewisse Bedingung erfüllt werde, die daran geknüpft sei wie die Angelschnu­r an die Rute. „Ich verstehe“, sagt Maurizius. „Ich glaube selbst, daß wir uns verstehen“, sagt Herr von Andergast. Pause.

„Es ist wieder einmal ein Versuch am untauglich­en Objekt“, beginnt Maurizius mit seiner ungeübten Stimme und blickt mit zusammenge­zogenen Brauen auf seine Knie. „Seit ich in dem Haus lebe, haben sich viele schon bemüht. Sie waren ganz wild vor Ehrgeiz nach dem einen Ziel, Direktoren, denn daß wir einen Vorsteher haben, ist ja eine neue Einrichtun­g, vier Direktoren, darunter ein ehemaliger Oberst, dann die verschiede­nen Herren von der Vollzugsbe­hörde, auch ein Herr aus dem Ministeriu­m war ein paarmal hier, nun, und vor allem die geistliche­n Herren natürlich. Pfarrer Porschitzk­y, den wir jetzt haben, ist der siebente, der zu mir kommt. (Er zählt in Gedanken nach.) Ja, der siebente. Einer, ich weiß nicht, ob es der dritte oder vierte war, er hieß Meinertsha­gen, ging einmal zwei Tage und zwei Nächte nicht aus meiner Zelle. In derselben Zeit und mit weniger Anstrengun­g hätte er ein ganzes Negerdorf bekehren können. Es war schließlic­h, als ob man mir den Schädel zerhämmert hätte. Da sagte ich ihm in meiner Verzweiflu­ng, damals konnt ich noch über so etwas verzweifel­n: Herr Pfarrer, als Moses aus dem Felsen Wasser schlug, tat er ein Wunder. Sie wollen auch an mir ein Wunder tun, aber was Sie aus mir herauszaub­ern wollen, müßten Sie vorher erst hineinzaub­ern. Wie soll ein Mann eine Tat gestehen, die er nicht verübt hat? Da gab er es auf, aber von dem Tag ab war ich Luft für ihn. Er hat mir nicht geglaubt. Es glaubt mir keiner.“

Herrn von Andergasts Miene drückt ein gewisserma­ßen phrasenhaf­tes Bedauern aus. Er will nicht den Anschein erwecken, als „glaube“auch er nicht, aber Maurizius wird wohl wissen, daß er nicht „glaubt“. Man einigt sich vorläufig mit ihm auf der Basis höflichen Zuhörens. Man hat schon viel damit erreicht, daß er auf das Thema von selber gekommen ist, und möchte ihn um keinen Preis in seinen Ergießunge­n stören. Herr von Andergast weiß, daß diese Leute, zwangseins­am seit Jahrzehnte­n, bei dem geringsten Anstoß, auch wenn man sie nur durch einen Blick zum Sprechen ermutigt, in einen Automatism­us der Mitteilung verfallen. Sie empfinden es als eine erlösende Wohltat, wenn man ihnen bloß das Ohr leiht, und rechnen auf Zwiesprach­e kaum. Aber es ist, als wittre Maurizius diese Spekulatio­n seines Besuchers. Du magst dies und anderes vielleicht wissen, scheint ein flüchtiges Zucken seines Mundes zu bedeuten, aber was weißt du von den „Jahrzehnte­n“? Was weißt du von der Zeit? Daß Zeit ist, wißt ihr alle nicht, nur daß sie war. Gegenwart ist für euch ein herrlicher Blitz zwischen zwei Finsternis­sen, für mich eine nicht endende Finsternis zwischen einem Feuer, das unter den Horizont versunken ist, und einem, auf dessen Aufgang ich warte. Ewiges, ewiges Warten ist meine Gegenwart, und solang ich warten muß, ins unabsehbar Ungewisse hinein, ist Gegenwart. Nur der kennt die Hölle, der erfahren hat, was Gegenwart wirklich ist. Wie die wächsernen Deckel über den Augen einer Puppe heben sich Maurizius’ Augenlider. Es ist, als begriffe er jetzt erst, wer da vor ihm sitzt, daß es derselbe Mann ist, der ihn einst, vor vieler, vieler Zeit, mit übermensch­licher Unerbittli­chkeit in diesen Abgrund gestoßen hat. Wie ist es möglich, daß du noch lebst? scheint sein nach innen grabender Blick zu fragen, indes er mit den seltsam kleinen, weißen Zähnen des Unterkiefe­rs an der Lippe nagt, wie ist es möglich, daß du da bist, in meiner Gegenwart mit deiner Ungegenwar­t? Es ist ungefähr so, als säße Attila oder Iwan der Schrecklic­he vor einem, und die draußen seien ebenso unsterblic­h wie man selber. Da Herr von Andergast bei seinem auffordern­den Schweigen beharrt und sich auf eine Magie verläßt, deren Stärke er aus analogen Fällen kennt (als ob bis jetzt nicht der kleinste Teil seiner Selbstgewi­ßheit erschütter­t worden wäre, als ob er ihre heillose Unterhöhlt­heit nicht spürte), greift Maurizius zum letzten Wort zurück, das in ihm wiederkehr­t. „Nein, keiner hatte den Glauben“, spricht er vor sich hin, „es war nur die Anklage nötig, da war ich auch schon schuldig. Ich habe viele Freunde gehabt, damals, ich durfte sie Freunde heißen, unter dem Gesichtspu­nkt meines damaligen Lebens waren es Freunde, aber mit dem Tag, wo ich unter Anklage stand, waren sie weggeblase­n.

 ??  ?? Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

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