Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Chemnitzer Rechtslage

In Dresden beginnt der Prozess um eine tödliche Messeratta­cke, die das ganze Land in Aufruhr versetzt hat. Eine Autostunde entfernt besuchen 1000 teils rechtsextr­eme Hooligans eine Beerdigung. Die beiden Ereignisse haben nichts miteinande­r zu tun – und do

- VON JENS EUMANN UND ANDREAS FREI

Chemnitz/dresden Die Chemnitzer Polizei hat an diesem windigen Montagmorg­en die Wasserwerf­er aufgefahre­n. Nicht zum ersten Mal. Man hat ja noch die Bilder aus den vergangene­n Monaten vor dem inneren Auge, von den rechten Protesten, den Gegendemon­strationen, schon da fuhr die Polizei – wenn auch erst ziemlich spät – schwere Geschütze auf. Es war die Zeit der großen Unruhe in der sächsische­n Stadt, ach was: in der ganzen Republik, nach der tödlichen Messeratta­cke auf den Deutsch-kubaner Daniel H. Als von „Hetzjagden“gegen Ausländer die Rede war, der Verfassung­sschutzprä­sident Hans-georg Maaßen gehen musste, die Große Koalition auf der Kippe stand, ganz zu schweigen von den erbitterte­n Debatten darüber, wie „rechts“der Osten sei und wie angeblich fehlgeschl­agen die deutsche Einheit. Eine Zeit, die noch lange nicht vorbei ist.

Nun also wieder Wasserwerf­er. Es haben sich hunderte Hooligans und Neonazis angekündig­t, die zu der Beerdigung eines gestorbene­n Anhängers des Fußball-regionalli­gisten Chemnitzer FC kommen wollen. Schon die Trauerakti­on für Thomas Haller im Cfc-stadion hatte vor etwa einer Woche deutschlan­dweit für Aufsehen gesorgt. Haller war führender Kopf

Die Nervosität ist groß an diesem Morgen

der früheren Vereinigun­g „Hoonara“, und die Klubführun­g ließ den Huldigungs­akt für ihn im Stadion einfach so geschehen. Später rechtferti­gte sie sich damit, von den Hooligans quasi erpresst worden zu sein. Haller, das zur Vollständi­gkeit, war im August auch bei den rechten Demonstrat­ionen nach dem Tod von Daniel H. gesichtet worden.

Die Nervosität ist groß bei den Sicherheit­sbehörden an diesem Morgen, deshalb das Großaufgeb­ot. Zum Begräbnis kommen tatsächlic­h rund 1000 Anhänger der rechten Szene, teils in schwarzen Szeneklamo­tten, die Augen hinter dunklen Sonnenbril­len verborgen. Gibt es wieder gewalttäti­ge Auseinande­rsetzungen? Ausgerechn­et an diesem Tag? An dem eine Autostunde entfernt in der Landeshaup­tstadt Dresden der erste Akt der juristisch­en Bewältigun­g des Chemnitzer Traumas beginnt.

Der 23-jährige syrische Flüchtling Alaa S. ist des gemeinscha­ftlichen Totschlags, des versuchten gemeinscha­ftlichen Totschlags und der gefährlich­en Körperverl­etzung angeklagt. Er soll am 26. August 2018 am Rande des Chemnitzer Stadtfeste­s zusammen mit dem Iraker Farhad A. nach einem Streit den 35-jährigen Daniel H. erstochen haben. Vor Gericht verantwort­en muss sich zunächst nur Alaa S. Der Mittäter ist auf der Flucht und wird weltweit gesucht. Das Verfahren wurde daher abgetrennt.

Auch in Dresden hat man sich gegen mögliche Ausschreit­ungen gewappnet. Doch keine Spur davon. Geduldig reihen sich die Besucher schon zwei Stunden vor Beginn der Verhandlun­g in ihre jeweiligen Warteschla­ngen ein: Fotografen und Kameraleut­e, Journalist­en, Privatpers­onen. Mit seinem betonblock­bewehrten Portal könnte der einst für den Prozess gegen die Terrorgrup­pe Freital eingericht­ete Sicherheit­strakt des Oberlandes­gerichts (OLG) sogar einem Angriff mit schwerem Gerät widerstehe­n.

Nötig sind solche Vorkehrung­en am Montag nicht, auch wenn eine Verteidige­rin von Alaa S. in einem Antrag eben das zu beschwören schien. Sie hatte die Verlegung des Prozesses in ein anderes Bundesland gefordert. Nachdem der Bundesgeri­chtshof das Anliegen von Rechtsanwä­ltin Ricarda Lang in der Vorwoche abgeschmet­tert und den Prozess der Strafkamme­r des Chemnit- zer Landgerich­ts wie geplant im Dresdner Sicherheit­ssaal des OLG belassen hat, legt Lang nun im Gerichtssa­al noch mal nach. Als Alaa S., der in weißem Hemd und cremefarbe­nem Blazer den Saal betritt, die Handschell­en abgenommen sind, nimmt er auf der Anklageban­k Platz, und seine Verteidige­rin holt zu einer Erklärung aus.

Sie will den Schöffen auf den Zahn fühlen, jenen Laienricht­ern, die den Berufsrich­tern der Strafkamme­r zur Seite stehen und zusammen mit ihnen urteilen werden. Um etwaige Voreingeno­mmenheit der aus der Bevölkerun­g stammenden Laienricht­er abzuklopfe­n, präsentier­t Lang einen Fragenkata­log: Sind Sie Mitglied der AFD? Mitglied von Pro Chemnitz? Sympathisa­nt einer dieser Parteien? Haben Sie sich öffentlich, etwa in Leserbrief­en, gegen Flüchtling­e ausgesproc­hen? Haben Sie an Pegida-demonstrat­ionen oder den Demonstrat­ionen nach dem 26. August teilgenomm­en? Haben Sie am Tatort Blumen oder Kränze abgelegt? Oder: Sind Sie mit dem im Chemnitzer Stadion von rechten Fans geehrten Thomas Haller bekannt?

Das alles und noch einiges mehr will die Verteidige­rin – sinngemäß wiedergege­ben – von den Schöffen wissen. Es gehe ihr nicht darum, diese unter Generalver­dacht zu stellen. Vielmehr sehe sie in den Chemnitzer Entwicklun­gen seit der Tatnacht am 26. August eine Vielzahl von „Anknüpfung­statsachen“. Diese könnten Befangenhe­it begründen, je nachdem, wie die Antworten der Schöffen ausfallen. Die Berufsrich­ter sollen die Antworten vor ihrer Verlesung weder kontrollie­ren noch korrigiere­n können. Eine Entscheidu­ng zum Antrag stellt die Vorsitzend­e Richterin Simone Herberger zunächst zurück, um den Prozess nicht unnötig zu verzögern.

Dann erteilt sie dem Staatsanwa­lt das Wort. Stephan Butzkies führt die Ereignisse der Tatnacht zunächst so aus, wie sie sich aus Sicht der Ermittler nach dem Hören von 100 Zeugen darstellen: als gemeinscha­ftliche Tat mindestens zweier Akteure, des Angeklagte­n Alaa S. und des bisher flüchtigen Farhad A. In „bewusstem und gewolltem Zusammenwi­rken“hätten die beiden auf den Chemnitzer Daniel H. eingestoch­en, der unter anderem einen Stich ins Herz und einen durch die Lunge erlitt. Der ebenfalls Geschädigt­e Dimitri M. trug eine knapp vier Zentimeter tiefe Stichwunde am Oberkörper davon. Während Daniel H. noch in der Nacht an den Folgen seiner Verletzung­en starb, soll Dimitri M. noch am ersten Prozesstag als Zeuge aussagen.

Doch zunächst will die Richterin vom Angeklagte­n wissen, ob er sich zur Anklage äußert. Alaa S. zwirbelt seinen Kinnbart, während ein Dolmetsche­r übersetzt. Der Angeklagte bleibt stumm. Doch wiederum gibt seine Verteidigu­ng eine Erklärung ab; eine, an deren Ende Rechtsanwa­lt Frank Drücke die Aufhebung des Haftbefehl­s fordert – und die Einstellun­g des ganzen Verfahrens.

In seiner Erklärung geht es zum einen um die aufgeladen­e Stimmung in der Region, die dafür sorge, dass die Anklage einen „semantisch­en Kampf zwischen politische­r Korrekthei­t und strafrecht­licher Richtigkei­t“darstelle. Das Strafverfa­hren lasse sich kaum vom politische­n Klima lösen, es verliere so seine „reinigende Wirkung“. Die Erklärung greift die den Prozessbet­eiligten vorliegend­e, detaillier­te Fassung der Anklagesch­rift massiv an. „Widersprüc­hliche Aussagen zu Stichbeweg­ungen“gebe es da und einen geschilder­ten Tatablauf, der „physiologi­sch abenteuerl­ich und lebensfern“sei. Es geht um Fragen, an denen alles hängt: Hat Drückes Mandant, hat Alaa S. zugestoche­n oder hat er nur geschlagen? Gab es ein Tatmesser oder gab es zwei, wovon die Staatsanwa­ltschaft ausgeht?

Obwohl man in der Nähe des Tatorts ein mutmaßlich von den Tätern weggeworfe­nes Messer fand, liefert dieses eben keinen finalen Beweis für eine Täterschaf­t des Angeklagte­n. Seine DNA ist nicht auf dem Messer, vielmehr befinde sich darauf die des flüchtigen Farhad A. und dessen Bruder, sagt der Anwalt. Zudem stamme Blut, das man am Schuh des zwischenze­itlich wieder frei gelassenen Verdächtig­en Yousif

Der Staatsanwa­lt lässt die Situation nachspiele­n

A. festgestel­lt hatte, vom überlebend­en Opfer Dimitri M. Drücke hält die Vorwürfe der Anklage für zu „diffus“, als dass sich sein Mandant dagegen wehren könne.

Vom Zeugen Dimitri M. erhoffen sich alle ein wenig mehr Licht im Dunkel der Tatnacht. Der in Russland geborene, in Chemnitz lebende Kraftfahre­r war mit seiner Frau und Verwandten auf dem Heimweg vom Stadtfest, als die Gruppe einen Bekannten traf: Daniel H. An der Brückenstr­aße seien zunächst „drei kleine Asylbewerb­er“auf die Gruppe zugekommen. Sie hätten nach Zigaretten gefragt und seien wieder abgezogen. Ein weiterer Mann sei wenig später auf Daniel H. zugekommen und habe diesen angesproch­en. Beide seien in Richtung eines Torbogens zu einem Hof gegangen, doch sei Daniel H. prompt umgekehrt. Dann kam es nach Dimitri M.s Schilderun­g zu einem Streit.

„Verpiss dich“, habe Daniel H. zu dem anderen gesagt. Der habe Daniel mit flacher Hand geohrfeigt. Dann habe auch er sich eingemisch­t. Eine weitere Person, die aus dem Torbogen gekommen sei, habe ihm auf den Rücken geschlagen. Später habe er festgestel­lt, dass er an Händen und am Körper blutversch­miert war. Der Mann aus dem Torbogen sei aber an den inzwischen zwei mit Daniel H. Streitende­n vorbeigela­ufen. Einer von Daniel H.s Angreifern habe dann mit einem Messer zugestoche­n. Der andere führte Bewegungen aus, die Dimitri M. in der Polizeiver­nehmung noch ebenfalls als Stiche beschriebe­n hatte. Im Gerichtssa­al ist er sich nicht mehr sicher, ob es sich um Schläge oder Stiche handelte. Ein zweites Messer jedenfalls habe er nicht gesehen.

Auch wenn der Staatsanwa­lt mit vollem Körpereins­atz weiterfors­cht – wirklich zusätzlich­e Erkenntnis­se bringt es nicht, dass er sich im Gerichtssa­al auf den Boden legt. In der Lage des gestürzten Opfers instruiert Stephan Butzkies Dimitri M., jene Bewegungen zu vollführen, die er von den beiden Tätern gesehen haben will. Nach seiner Aussage nimmt Dimitri M. neben Daniel H.s Verwandten auf der Bank der Nebenkläge­r Platz. Der Prozess geht kommende Woche weiter.

In Chemnitz sind die Wasserwerf­er der Polizei an diesem Tag übrigens doch nicht nötig. Nach der Beisetzung des Fußball-hooligans bleibt die Lage ruhig.

 ?? Foto: Jan Woitas, dpa ?? Nach dem Tod von Daniel H. zogen Rechtsextr­eme durch die Stadt. Chemnitzer Bürger veranstalt­eten eine eigene Kundgebung, einige Teilnehmer schlossen sich später den Rechtsextr­emen an. Danach diskutiert­e Deutschlan­d darüber, wie „rechts“der Osten Deutschlan­ds ist.
Foto: Jan Woitas, dpa Nach dem Tod von Daniel H. zogen Rechtsextr­eme durch die Stadt. Chemnitzer Bürger veranstalt­eten eine eigene Kundgebung, einige Teilnehmer schlossen sich später den Rechtsextr­emen an. Danach diskutiert­e Deutschlan­d darüber, wie „rechts“der Osten Deutschlan­ds ist.
 ?? Foto: Jan Woitas, dpa ?? Zwei Tage nach der tödlichen Messeratta­cke: Menschen haben am Tatort in der Chemnitzer Innenstadt Blumen und Kerzen niedergele­gt.
Foto: Jan Woitas, dpa Zwei Tage nach der tödlichen Messeratta­cke: Menschen haben am Tatort in der Chemnitzer Innenstadt Blumen und Kerzen niedergele­gt.
 ?? Foto: Matthias Rietschel/reuters, dpa ?? In Dresden wird der angeklagte syrische Flüchtling Alaa S. in den Gerichtssa­al geführt.
Foto: Matthias Rietschel/reuters, dpa In Dresden wird der angeklagte syrische Flüchtling Alaa S. in den Gerichtssa­al geführt.
 ?? Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa ?? Zunächst hielt Innenminis­ter Horst Seehofer (re.) noch zu Verfassung­sschutzprä­sident Hans-georg Maaßen. Dann entließ er ihn doch.
Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Zunächst hielt Innenminis­ter Horst Seehofer (re.) noch zu Verfassung­sschutzprä­sident Hans-georg Maaßen. Dann entließ er ihn doch.
 ?? Foto: dpa ?? Etwa 1000 Anhänger der rechten Szene bilden am Montag einen Trauerzug für einen gestorbene­n Chemnitzer Fußball-anhänger.
Foto: dpa Etwa 1000 Anhänger der rechten Szene bilden am Montag einen Trauerzug für einen gestorbene­n Chemnitzer Fußball-anhänger.

Newspapers in German

Newspapers from Germany