Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Es geht nicht um Sünde“

Die Zahl der Missbrauch­sfälle in der Kirche ist wohl deutlich höher als bekannt war. Das ergab eine Studie des Ulmer Kinder- und Jugendpsyc­hiaters Jörg Fegert. Welche Botschaft er hat

- (kriminolog­ische Studie zum Missbrauch im Auftrag der deutschen Bischöfe, Anm. d. R.)

Herr Fegert, Sie haben die Studie „Sexuelle Gewalt durch Seelsorger und in kirchliche­n Institutio­nen“erarbeitet. Ihre Zahlen übertreffe­n die Zahl bisher bekannter Missbrauch­sfälle bei weitem: Sie sprechen von vermutlich 228 000 Opfern in der katholisch­en und der evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d. Haben Sie Resonanz aus den Kirchen bekommen?

Manche haben gesagt: Gut, dass das Dunkelfeld beleuchtet worden ist. Andere haben gesagt: Hätte man mit einer größeren Stichprobe nicht sicherere Aussagen bekommen? Im Herbst ist ja die Mhg-studie

zum sexuellen Missbrauch in der katholisch­en Kirche veröffentl­icht worden. Da war von einem „administra­tiven Hellfeld“von Missbrauch­sfällen die Rede. Uns ging es darum, das Dunkelfeld von sexuellem Missbrauch in Institutio­nen zu untersuche­n.

Sie haben 2516 Menschen befragt.

Fegert: So viele und so repräsenta­tiv wie bei einer Sonntagsfr­age. Die Größe der Umfrage ist eine finanziell­e Frage. Es ist eine Studie, die wir mit unseren Bordmittel­n in Ulm gemacht haben. Ich fände es zum Beispiel sinnvoll, wenn sich beide Kirchen und andere Auftraggeb­er, die Jugendarbe­it machen, mit dem Staat zusammentu­n würden, um eine größere Studie zu machen.

Warum sind die Dunkelziff­ern so viel höher?

Fegert: Das ist für mich nichts überrasche­ndes. Dieser Unterschie­d ist auch bei weltlich angezeigte­n Straftaten enorm groß. Es gibt einfach einen ganz großen Teil von Fällen, die nicht angezeigt werden. Und wir wissen von vielen Betroffene­n, dass ihnen einfach nicht geglaubt wurde und sie dann den Mut verloren haben, es erneut anzusprech­en.

Die Schwere der Übergriffe durch Geistliche war der Studie zufolge besonders hoch. Woran kann das liegen?

Fegert: Dafür habe ich keine kausale Erklärung. Mir war es wichtig, diese zu kommunizie­ren. Denn die aktenkundi­gen Taten sind sehr häufig Berührunge­n – also kriminolog­isch weniger schwer eingeschät­zte Fälle als die Penetratio­n, von der Betroffene gesprochen haben. Wichtig ist: Es gibt auch diese schwerwieg­enden Fälle des Missbrauch­s durch Priester.

An der Studie gab es auch Kritik. Was ist aus Ihrer Sicht problemati­sch?

Fegert: Die Zahlen an sich sind nicht problemati­sch. Wir haben bei dieser Stichprobe ein sehr großes Sicherheit­sintervall, weil das Ereignis ein relativ seltenes ist. Was man mit 95-prozentige­r Sicherheit sagen kann: Das Dunkelfeld ist acht- bis 80-mal größer als das Hellfeld. Wir haben die Mittelwert­e angegeben, um ein Gefühl für die Dimension zu vermitteln. Wenn ich Prozentzah­len nehme, wirkt das unglaublic­h klein und emotional belanglos. Wenn man die Zahlen übersetzt auf die Größe der Bevölkerun­g, dann hat das emotional eine andere Wirkung, dann erreicht das die Menschen.

Es geht Ihnen auch um eine Botschaft?

Fegert: Selbstvers­tändlich. Wir machen diese Arbeit, damit man sich den Aufgaben stellt: Mit den Fällen umzugehen, bessere Prävention zu leisten. Dafür ist die Dimension der Problemati­k absolut wichtig.

Stellt sich die katholisch­e Kirche der Problemati­k? Vergangene Woche hat die Bischofsko­nferenz ja einige Beschlüsse bekannt gegeben.

Fegert: Von außen ist es schwierig, das zu bewerten. Die Auseinande­rsetzung mit der Sexualmora­l ist sicher gut. Da hat sich die katholisch­e Kirche vom in der Gesellscha­ft Akzeptiert­en immer weiter entfernt. Wir definieren sexuelle Beziehunge­n so, dass wir sagen, es braucht eine wissentlic­he Zustimmung. Deswegen sind die Missbrauch­sfälle so unmöglich: Kinder können die Tragweite nicht absehen. Es geht nicht um Sünde, es geht darum, dass wir Beziehunge­n zwischen Menschen als frei gewählte Beziehunge­n definieren. Die Kirche muss klären, wie sie damit und mit der Macht, die sie auf Gläubige ausübt, umgeht.

Von höheren Entschädig­ungen, wie sie teils gefordert werden, war keine Rede.

Fegert: Es geht darum, die Betroffene­n ernst zu nehmen. Da sind Entschädig­ungssummen eines. Aber auch die Beteiligun­g an Verfahren gehört dazu. Haben wir Opferanwäl­te? Haben wir ein Nebenklage­recht? Bekommt der Betroffene die Unterlagen zu sehen? All das ist momentan im Kirchenrec­ht nicht Standard. Da sind noch sehr viele Schritte zu machen im Blick auf mehr Transparen­z.

Wie ist es in der evangelisc­hen Kirche? Geschieht dort genug, um Missbrauch­sfälle aufzukläre­n?

Fegert: Ich würde nicht davon ausgehen. Die evangelisc­he Kirche ist noch stärker regional aufgesplit­tert, auch mit unterschie­dlichen Zuständigk­eiten. Die nordelbisc­he Kirche in Hamburg und Schleswig-holstein hat sehr viel für die Aufklärung des dortigen Missbrauch­sskandals getan. Aber das ist keine flächendec­kende Debatte. Die hat eigentlich jetzt erst richtig begonnen.

Haben Sie eine Erklärung, warum die Zahl der Übergriffe in der evangelisc­hen Kirche so hoch ist wie in der katholisch­en?

Fegert: Wir haben in unseren Studien auch immer geschaut: Wie sieht es im Sport, im Musikverei­n und in Schulen aus. Also überall dort, wo Abhängigke­itsverhält­nisse bestehen. Da finden wir auch relativ hohe Raten von sexuellem Missbrauch. Für mich besteht immer noch die Frage, ob es ein Spezifikum der katholisch­en Kirche ist.

Aber es gibt doch spezifisch­e Gründe für die Fallzahlen in den Kirchen?

Fegert: Häufig wird über Zölibat und so weiter geredet. Das mögen kirchliche Experten diskutiere­n. Was ich sehe ist, das alle Abhängigke­itsverhält­nisse besonderen Schutz für Kinder erfordern. Es mag begünstige­nde Faktoren geben. Bei unserer Forschungs­arbeit in der Vergangenb­eobachtung­en heit haben sehr viele Betroffene aus Kirchen gesagt: Gegen einen Pfarrer etwas zu sagen, hätte die Familie nie gewagt. Da wäre man im Dorf völlig isoliert gewesen. Das ist vielleicht, was man allgemein unter Klerikalis­mus verstehen könnte: dieser hohe Respekt der Einrichtun­g gegenüber. Aber wenn Sie die Abhängigke­itsverhält­nisse von Kadertrain­ern im Sport sehen, haben sie auch da Abhängigke­iten, die für Missbrauch ausgebeute­t werden können.

Ein gesellscha­ftliches Problem also?

Fegert: Ja, da hatte der Papst inhaltlich völlig recht: Es ist ein weltweites gesellscha­ftliches Problem – auch wenn man sich vielerorts sehr geärgert hat über seine Ansprache. Die Vereinten Nationen sagen, wir sollten alle jungen Erwachsene­n regelmäßig befragen, welche Form von Gewalt sie in der Kindheit erfahren haben. Nur so können wir sehen, ob wir besser werden. Beim Papst, einem geübten Rhetoriker, war das Problem, dass er am Anfang seiner Rede lange über andere gesprochen hat. Wenn man das macht, entsteht der Eindruck, man wolle von der eigenen Verantwort­ung ablenken.

Welche Möglichkei­ten gibt es, um sexuellen Missbrauch zu verhindern?

Fegert: Der Bischof von Rottenburg hat eine regelmäßig­e Auditierun­g einzelner Einrichtun­gen vorgeschla­gen. Wir haben das bei uns im Klinikum Ulm zum Beispiel beim „Audit Beruf und Familie“. Seit ich in Ulm bin, hat sich in diesem Bereich viel verändert. Wir haben zum Beispiel Kitas aufgebaut. Wenn einzelne Institutio­nen in den Wettbewerb gebracht werden bei der Frage „wie kann ich mich vor Ort in der Prävention verändern“, dann hätten wir ganz andere Voraussetz­ungen für konkrete Veränderun­gen in diesem Bereich.

Interview: Sebastian Mayr

62, ist Professor und Ärztlicher Direktor für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie an der Uni Ulm.

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Foto: GLAS/ZMS, dpa Die Barrenring­elnatter wurde im Alpenraum entdeckt.Jörg M.Fegert:
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