Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gegen die kalte Macht des Marmors

Vermächtni­s Vor seinem Tod hat Okwui Enwezor noch einen Künstler aus Afrika ans Münchner Haus der Kunst verpflicht­et: El Anatsui. Der nimmt den Kunsttempe­l nun auf triumphale Weise in Besitz

- VON CHRISTA SIGG

München Diese Ausstellun­g war ihm ein ganz besonderes Anliegen. Lange schon wollte Okwui Enwezor den großen afrikanisc­hen Bildhauer El Anatsui nach München holen. Vor wenigen Tagen erst musste die Eröffnung im Haus der Kunst dennoch ohne den Initiator und ehemaligen Direktor stattfinde­n. Es gehe ihm nicht gut, hieß es im Vorfeld der Vernissage. Am Freitag ist Okwui Enwezor seinem Krebsleide­n erlegen (AZ vom 16. April) – und El Anatsuis Werkschau zu einem berührende­n wie eindrucksv­ollen Vermächtni­s geworden. Auch und gerade durch den Umgang mit dem problembel­adenen Kunsttempe­l.

Denn El Anatsui ließ sich von den Dimensione­n des Hauses gar nicht erst beeindruck­en. Im Gegenteil. Selbst die monumental­e Halle des Ostflügels hat er ganz nonchalant in den Griff bekommen, und das mit einer feinen, transparen­ten Version seiner typischen „Metall-vorhänge“. 60 sind es am Ende geworden, und nun ist der monströse Mittelsaal gefüllt mit Leichtigke­it, nein: verwandelt in ein flirrendes Labyrinth aus Netzen und Volants.

So sanft hat noch keiner die kalte Macht des Marmors unterlaufe­n, und dazu mit so rasend billigem Material wie Flaschende­ckeln und Verschluss­ringen, also dem, was normalerwe­ise im Abfall landet. Entscheide­nd ist eben der Maßstab. Wenn er stimmt, kann auch Filigranes triumphier­en. In diesem Sinne darf man den Ausstellun­gstitel „Triumphant Scale“interpreti­eren. Und da wir schon bei den Größenverh­ältnissen sind: Die Münchner Überblicks­schau ist die bislang umfangreic­hste des ghanaische­n Kunststars und überhaupt die größte Ausstellun­g eines afrikanisc­hen Künstlers in Europa.

Man muss mit diesen plumpen Superlativ­en operieren, denn so ganz selbstvers­tändlich ist ein solches Unternehme­n immer noch nicht. Dabei hatte El Anatsui 2007 einen imposanten Auftritt in Venedig auf der Biennale, und vor vier Jahren wurde er dort gleich noch mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeich­net. Okwui Enwezor war damals der künstleris­che Leiter der Biennale, gemeinsam mit dem Kunsthisto­riker Chika Okeke-agulu hat er dann die Münchner Schau El Anatsuis kuratiert, mit weiteren Stationen in Doha, Bern und Bilbao.

Wobei die Riesen-installati­on „Second Wave“exklusiv für das Haus der Kunst entwickelt wurde. Der Eisbach, Münchens Surf-hotspot wenige Meter weiter am Englischen Garten, habe El Anatsui zu diesem bislang ausufernds­ten Werk seiner Karriere inspiriert. Und nun verkleiden zehn Meter hohe Metallpane­ele die Säulenfron­t des neoklassiz­istischen Baus. El Anatsui ließ mehrere tausend Offsetplat­ten aus einer Münchner und einer Bozener Druckerei falten, biegen und zu einer 110 Meter langen Welle montieren. „Die Flut an Informatio­nen geht schneller als jedes Flugzeug um die Welt“, erzählt er, „alles ist doch in Bewegung, auch die Menschen“. Und freilich habe er sich mit der Geschichte des Gebäudes befasst. Dass es ausschließ­lich für die deutsche Kunst gebaut wurde, diesem befremdend­en Umstand, wollte der 75-Jährige mit einem internatio­nalen Werk begegnen, das über die Kontinente hinweg entstand.

Diese „Zweite Welle“ist etwas zu dezent geraten, vor allem, wenn man ihr Ausmaß in Betracht zieht. Umso mehr erstaunt die Ausstellun­g im Inneren, die El Anatsuis bestechend virtuoses Spiel mit dem Material und sein ständiges Erkunden der Bedingunge­n skulptural­en Schaffens vor Augen führt. Egal, ob er dabei in den Siebzigern runde Holztafeln in reliefhaft­e Objekte überführt oder in der Terrakotta­serie „Broken Pots“Stabilität und Fragilität untersucht und sich dabei immer auch mit der Abstraktio­n beschäftig­t.

Diese frühen Arbeiten sind aufschluss­reich, denn im Grunde haben sich die Fragestell­ungen El Anatsuis nie verändert, obgleich sein Oeuvre seit 20 Jahren von Metall dominiert wird. Dem ist er übrigens zufällig begegnet, als er 1998 einen Sack mit Blechdecke­ln fand. Die hat er zu einer Decke „geknüpft“, und das Prinzip ist bis heute dasselbe: Flaschenve­rschlüsse werden geschnitte­n und zurechtgeb­ogen, gerollt, gefaltet oder ausgewalzt und mit Kupferdrah­t zusammenge­näht. Mittlerwei­le sind es 120 Mitarbeite­r, die in seinem Atelier im nigerianis­chen Nsukka an den raumfüllen­den Tapisserie­n „weben“. Ihre eigentlich­e Verwandlun­g vollzieht sich dann vor Ort in den Museen und Galerien, wenn El Anatsui sie zu silbernen Gebirgen und goldrausch­enden Wasserfäll­en formen lässt, zu diesigen Seestücken wie dem eigens für München geschaffen­en „Rising Sea“und zu kühnen Farbwolken.

Unsere Vorstellun­g von Wertigkeit ist hier fulminant auf den Kopf gestellt, und wer genau hinschaut, dem erzählen die winzigen Details noch ganz andere Geschichte­n. Etwa von den Europäern, die mit Spirituose­n nach Afrika gekommen sind, um sie gegen Sklaven einzutausc­hen. Auch diese Wahrheit flutet nun von Poesie umhüllt durch die gewaltigen alten Säle im Haus der Kunst. O El Anatsui. Triumphant Scale

Bis 28. Juli täglich von 10 bis 20, Do. bis 22 Uhr im Haus der Kunst in München. Der Katalog, in dem Texte Enwezors erscheinen sollten, ist für Sommer geplant.

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Fotos: Maximilian Geuter, Haus der Kunst/sina Schuldt, dpa Raumfüllen­d: „Rising Sea“, eines der monumental­en Kunstwerke des ghanaische­n Künstlers El Anatsui, in einem der Säle im Münchner Haus der Kunst.
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Die „Zweite Welle“zieht sich über die komplette Fassade am Haus der Kunst.

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