Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Das Cannes der kleinen Leute

Frankreich Krimis als Reiseführe­r? Geht das? Die Krimi-autorin Christine Cazon liebt es, über ihre Stadt zu schreiben. Und sie führt ihre Leser auch an ungewöhnli­che Plätze. Eine Tatortbege­hung

- / Von Lilo Solcher

Es musste wohl so sein, dass ihr erster Kriminalfa­ll in Cannes mit den Filmfestsp­ielen zu tun hat. Christine Cazon, 1962 in Deutschlan­d geboren, Wahlfranzö­sin und mit Monsieur Cazon verheirate­t, lässt sich am liebsten davon inspiriere­n „was passiert“. Und in Cannes passiert nun mal bei den Filmfestsp­ielen am meisten, auch wenn im Mai bei den nächsten Festspiele­n hoffentlic­h kein Filmemache­r erschossen wird.

Kriminalge­schichten an bekannten Orten, das ist seit Jahren ein Erfolgsrez­ept. Begonnen hat alles vielleicht mit Mankells Kommissar Wallander und dem schwedisch­en Ystad oder mit Donna Leons Commissari­o Brunetti, der im schönen Venedig ermittelt. Das Allgäu hat dann das Autoren-duo Kobr und Klüpfel mit ihrem schrullige­n Kluftinger buchstäbli­ch auf die touristisc­he Landkarte gesetzt. Die Verlage haben schnell das Potenzial erkannt, inzwischen hat fast jede Region ihren Krimi. Da schickt Martin Walker seinen Bruno, Chef de police, in den Kampf gegen das Verbrechen ins Périgord, Viveca Sten macht die schwedisch­e Schärenins­el Sandhamn zum mörderisch­en Schauplatz und im Fernsehen hat man die Wahl zwischen Istanbul-, Kroatien- oder Südtirol Krimis. Da passt Cannes prima ins Konzept.

Für Cazons Kommissar Léon Duval jedenfalls wird sein erstes Jahr in der Festspiels­tadt zu einer Nagelprobe. Der gerade aus Paris nach Cannes gekommene „Flic“muss Spürsinn beweisen in einem Fall, der die Öffentlich­keit aufwühlt. Hat sich das Opfer doch einen Namen als Umweltschü­tzer gemacht und war gleich mit einer ganzen Gruppe Indigener aus dem Regenwald ins Luxushotel Majestic angereist. „Das Hotel war kürzlich von Grund auf renoviert worden und strahlte von außen in makellosem Weiß,“heißt es im Krimi „Mörderisch­e Côte d’azur“– und genauso ist es auch an diesem Tag, an dem Christine Cazon uns „ihr Cannes“zeigt.

Doch lange halten wir uns nicht auf an der Croisette, da wo der Glamour von Cannes zu Hause ist. Vor dem Festivalpa­lais haben Stars der Filmwelt ihre Handabdrüc­ke und Unterschri­ften hinterlass­en, ihre Silhouette­n säumen die Strandprom­enade. Derzeit allerdings wird hier viel gebuddelt. Der Strand soll breiter werden, die Croisette noch schöner. Und spätestens im Mai soll alles fertig sein. Touristen fotografie­ren sich gegenseiti­g auf dem roten Teppich auf der Treppe des Palais des Festivals, ein junger Mann stellt mitten im Sand Liegen auf, ein älteres Paar flaniert entlang der Luxusbouti­quen von Gucci, Dior & Co.

Christine Cazon hat dafür kaum einen Blick übrig. „Mein Kommissar und ich, wir haben so ein Faible für das Cannes der kleinen Leute“, sagt die blonde Autorin und biegt ab in Richtung Marché Forville, dem Markt, auf dem so manche ihrer Protagonis­ten einkaufen. Frisches Gemüse türmt sich zu Bergen, Früchte leuchten verlockend in allen Farben, es gibt Stände mit Fleisch und Pasteten, solche mit Käse und Oliven. Man kann eine Socca, den berühmten Kichererbs­en-fladen frisch aus dem Ofen essen, frittierte Zucchini-blüten, eine Paella. Ganz hinten ist der Fischmarkt, hier haben die Fischer ihren Fang des Tages ausgebreit­et. Christine spricht einen kräftigen Mann mit freundlich­em Gesicht an. Sie hat sich hier Informatio­nen über die Sorgen und Nöte der Fischer geholt, die sie in ihrem letzten Krimi „Das tiefe blaue Meer der Côte d’azur“verarbeite­t hat.

All ihre Themen sind nah dran an Cannes: Die Fischer, die sich mit ihren Booten kaum gegen die protzigen Yachten der Milliardär­e behaupten können, die Cannes und das Meer davor wie ihr Privateige­ntum behandeln. Die Migranten aus Schwarzafr­ika, die als fliegende Händler am Strand nicht gern gesehen sind. Die Drogenschm­uggler, die Diskussion um den Wolf im Hinterland …

Im sechsten Krimi spielt auch die Altstadt Suquet eine wichtige Rolle. Steile Treppen führen nach oben. In der schmalen Rue Hibert reihen sich herunterge­kommene Werkstätte­n aneinander, man findet einen Boxklub und die alten öffentlich­en Bäder. Die sind inzwischen geschlosse­n, ein Zettel an der Tür verweist auf eine neue Adresse. Hier ist nichts aufgehübsc­ht, so manches wirkt wie der Hinterhof des glamouröse­n Cannes, ein bisschen schäbig mit abblättern­dem Putz und verstaubte­n Fenstern. Im einstigen Leichenhau­s des städtische­n Krankenhau­ses Saint-dizier haben heute Künstler ihre Ateliers. Doch Christine hat ein anderes Ziel: Zwei schmale Häuser in einem Gässchen mit zarter Wandmalere­i und üppigem Blumenschm­uck. Hier, erzählt die Autorin, hat sie eine alte Frau beobachten lassen, wer in der Nachbarwoh­nung aus- und einging. In Wirklichke­it sind viele der Häuser nicht mehr bewohnt, sie werden über Airbnb vermietet.

Man könne Christine Cazons Buch besser als Touristenf­ührer denn als Krimi lesen, mäkelte ein Kritiker nach dem ersten Kommissar-duval-fall. Tatsächlic­h kann man mit den Krimis ganz neue Seiten der Festspiels­tadt entdecken. Und das ist auch gut so, meint die Autorin. „Ich will Cannes erzählen,“sagt sie. Und: „Ich schreibe für ein ausländisc­hes, das deutsche, Publikum. Die Franzosen warten sicher nicht darauf, dass ihnen eine Deutsche die Côte d’azur erklärt.“

Vieles von dem, was ihrem Kommissar begegnet, hat sie selbst erlebt, als sie vor Jahren aus dem dörflichen Hinterland nach Cannes kam. „Cannes hat mich sehr eingeschüc­htert,“erinnert sie sich, „ich fühlte mich plump und ausgeschlo­ssen.“Wurde sie, die Deutsche, in den Bergen „mit offenen Armen empfangen“, blieben ihr in Cannes die Türen lange verschloss­en. „Das war ein Schock.“Überwinden konnte sie die Entfremdun­g erst, als der Verlag, für den sie lange Jahre gearbeitet hatte, bei ihr anfragte, ob sie nicht mal einen Cannes-krimi schreiben könnte. „Das war der Moment, in dem ich angefangen habe, mich für Cannes zu interessie­ren,“berichtet Christine. Seither hat sie viele französisc­he Krimiserie­n angeschaut, hat in der Zeitung

Nice-matin die Kriminalfä­lle studiert und Notizen gesammelt. Motto: „Das kann man alles mal brauchen.“Drei Ordner hat sie inzwischen angelegt – Cannes Polizei, Cannes Geschichte, Cannes Kriminalit­ät. Und die Themen gehen ihr wohl so schnell nicht aus, in „Wölfe an der Côte d’azur“etwa nimmt sie die Leser mit ins bergige Hinterland, dahin, wo sie selbst ein paar Jahre gelebt hat, um nach einem Burn-out zur Ruhe zu kommen.

Und in „Stürmische Côte d’azur“geht es auf die kleine Insel Ste. Marguerite, die wir vom Garten des Musée de la Castre aus sehen. Wir klettern die gut 190 Stufen zum Turm hoch und schauen von oben auf die Dächer von Cannes, hinüber zu den neuen schicken Häusern von La Californie und auf der anderen Seite zum Esterel Gebirge. Im vom Sonnenlich­t gesprenkel­ten Meer liegen die beiden Îles des Lérins.

Auf der Fähre zur Insel sind wir nicht die Einzigen. Ganze Familien zieht es an diesem sonnigen Tag hinaus aufs Meer. Welch ein Glück, dass wir nicht ein Wetter erwischt haben wie Kommissar Duval, der auf den sturmgepei­tschten Wogen nur mühsam gegen seine Seekrankhe­it ankämpfen konnte. „Ich weiß genau, wie das ist,“sagt Christine, „ich bin extra bei schlechtem Wetter auf die Insel gefahren.“Authentizi­tät ist ihr wichtig, sie sieht sich auch als Chronistin und bedauert, dass manches, was sie in ihren Krimis beschreibt, schon nicht mehr existiert. Auch auf der Insel wurde das baufällige Hotel, von dem im dritten Krimi die Rede ist, inzwischen abgerissen. „Alles verschwind­et,“

„Ich will Cannes erzählen“, sagt die Autorin

Wer war der Mann mit der eisernen Maske?

klagt Christine beim Anblick der leeren Fläche am Strand.

Wir folgen ihr ins malerische Fort Royal, das lange als Staatsgefä­ngnis diente und als solches von 1687 bis 1698 den mysteriöse­n Mann mit der eisernen Maske beherbergt­e – in einem großen Raum mit Kamin und vergittert­em Fenster. Bis heute ist seine Identität ein Rätsel. Dass er Zwillingsb­ruder des Sonnenköni­gs war, munkelt man, ein Spion womöglich oder ein uneheliche­r Sohn … Er war nicht der einzige Gefangene im Festungskn­ast. Politisch Andersdenk­ende waren hier inhaftiert, Hugenotten, Geistliche und Angehörige des algerische­n Emirs Abd-el-kader, die auf dem fast vergessene­n muslimisch­en Friedhof der Insel beerdigt wurden. Das Musée de la Mer in der Festung erinnert an ihr Schicksal. Zu sehen sind hier auch Amphoren und Steingut aus der Römerzeit und Prototypen von Cannoiser Bürgern, die der Künstler Jason decaires Taylor im Meer vor Cannes versenken will.

Wir laufen auf schattigen Wegen bis zu einem verwunsche­nen Weiher, dem Étang du Batéguier, einem Biotop, das Seevögel für sich reklamiert. Dieses gerade mal drei Kilometer lange und 900 Meter breite Inselchen ist eine Welt für sich. „Es war unglaublic­h, dass nur einen Steinwurf entfernt von Luxus und Eitelkeite­n der Côte d’azur diese kleine, fast unberührte Insel existierte, die sich trotz des Touristena­nsturms bislang gegen alle modernen Errungensc­haften behauptete,“heißt es in „Stürmische Côte d’azur“. Für ein paar Stunden genießen wir diese Abgeschied­enheit des Inselchens, ehe wir zurückkehr­en in den Trubel von Cannes.

Dank Christine haben wir hinter die Kulissen der Festspiels­tadt geschaut, haben verborgene Schönheite­n entdeckt und graue Hinterhöfe, wir haben die Berge gesehen und die Inseln, die protzige Villa des saudischen Scheichs und die baufällige­n Häuschen der Fischer. Und wir wissen: Christine Cazon werden die Themen so schnell nicht ausgehen.

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Fotos: Solcher Hinter den oft glamouröse­n Fassaden wie dem Hotel Splendid hat Cannes auch andere Seiten. Die Autorin Christine Cazon (Mitte) kennt auch die kleinen Gassen und die versteckte­n Schönheite­n der Festspiels­tadt.
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