Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (77)

-

ILeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

ch sah mich immer nach ihnen um, ich konnte es nicht fassen, solch ein Abfall… Ich hatte doch keinem was Böses angetan, hatte keinen verraten, ich dachte, sie müßten mich kennen, jeder Mensch hat doch sozusagen seinen moralische­n Standard, man hatte einander so vieles anvertraut, keine Falte war unverdeckt geblieben, bildete man sich ein,… und keiner…, keiner, wie wenn man plötzlich unter fremdem Namen aufgetauch­t wäre…, in einer andern Welt…“– „Einen vergessen Sie“, mahnt Herr von Andergast, „ich denke, Ihr Vater hat den Glauben niemals verloren.“Er entschließ­t sich nicht leicht zu einem Hinweis, der zuviel Familiäres enthält, aber erstens sagt er sich, daß er hier ist, um zu dissimulie­ren, zweitens beginnt ihn sein Gegenüber zu fesseln, es ist da eine Mischung von Bestimmthe­it und Weite, von Kälte und vermutbare­r, entschloss­en eingedämmt­er Glut, die ihn aufzumerke­n zwingt und die mißtrauisc­he Gleichgült­igkeit, mit

der er gekommen ist, verflüchti­gen läßt. Maurizius nickt kaum merklich. „Ja, es ist wahr“, antwortet er, „Vater, ja, der… Aber Vater, das zählt nicht. Es ist ein Unterschie­d zwischen Blutliebe und anderer. Gehört einem ein Mensch, so beweist es der Welt nichts, wenn man zu ihm steht. Eigentum tilgt Schuld. Auch Elli hatte…“Er stockt, schüttelt den Kopf. Es war jedenfalls ein wunderlich­es Auch, wunderlich­es Beispiel, das er unterdrück­te. Herr von Andergast zieht die Zigaretten­dose aus der Weste, reicht sie Maurizius geöffnet hin, der nimmt mit gieriger Eile, überrascht, eine Zigarette. Herr von Andergast gibt ihm Feuer, zündet sich selbst eine an, eine Weile schauen sie einander wortlos rauchend ins Gesicht. Herr von Andergast überlegt angestreng­t. Endlich, als habe er angefangen, Zweifel zu hegen, und hoffe, auf eine Fährte gebracht zu werden, wirft er die Frage hin: „Wenn ich also annehmen soll, daß Sie nicht geschossen haben, wohlgemerk­t, ich darf es nicht annehmen, ich suche mich nur in Ihre Auffassung zu versetzen, wer, nach Ihrer Auffassung, könnte sonst geschossen haben?“Um seine Lippen spielt ein freundlich-ermunternd­es Lächeln, die Veilchenau­gen blicken beinahe gütig. Maurizius starrt ihn an. Seine Brauen heben sich verächtlic­h, so daß auf der Stirn eine tiefe Kerbe erscheint. Es vergehen ungefähr anderthalb Minuten, während welcher sein Gesicht von einer Finsternis überzogen wird, die etwas von stummer Raserei hat. Ist es die Frage, die tausend- und abertausen­dmal im gleichen Ton, mit der gleichen Skepsis, mit dem gleichen Richter- und Henkertriu­mph gestellte Frage, die ihn so verwandelt? Schwerlich. Er hat Geduld gelernt. Er hat die Geduld der Frager kennengele­rnt. Er ist hart und taub dagegen geworden. Die Frage trifft in ihm nichts mehr, lockt und löst in ihm nichts mehr. Sie niemals, unter keiner Seelen- und Körperqual zu beantworte­n, nicht mit Blick, noch Hauch, noch Geste, das ist beschlosse­ne Sache seit achtzehn Jahren und sieben Monaten. Da bissen sie auf Granit. Aber es ist nicht das. Es ist der Mann selber. Er begreift auf einmal: da sitzt der Gegner. Fünfundsie­bzig Zentimeter von dir entfernt der Verdammer, der Verderber, der übermensch­lich Unerbittli­che, nicht bloß Repräsenta­nt, von solchen waren viele hier, nein, die Person selber. Fügung und Schicksals­inkarnatio­n. Alles Draußen verdichtet in ein einzelnes Individuum, Welt, Menschheit, Gericht, Urteil, alles Erlittene, alles in diesem Raum Ergrübelte, alle die ewige Gegenwart, alle die schlaflose­n Nächte, die Demütigung­en, Entbehrung­en, Verzweiflu­ngen, Todesängst­e, Todeswünsc­he, Lebensgier und Fleischesg­ier, der ganze Raub des Lebens: verleiblic­ht in dem einen Mann. Er fühlt sich ihm grauenhaft nah, so nah, wie einem im Traum zuweilen der eingeboren­e Widersache­r ist. Mit ihm abzurechne­n ist wie Stillung eines seit achtzehnei­nhalb Jahren ungewußt gehegten Verlangens. Doch er muß zur Ruhe kommen. Er darf den einmal gewesenen Menschen in seinem Innern nicht auferstehe­n lassen. Ihm ahnt, daß er mit dem Mann da Zeit hat. Er sagt still: „Ein Richter muß mir meine Schuld beweisen. Daß ich ihm meine Unschuld beweisen soll, wenn ich es nicht kann, geht gegen den Sinn der Welt. Es gibt Völker, die das längst eingesehen haben, und darum sind sie größer. Besseres Recht, besseres Volk.“

Herr von Andergast stand auf und ging zum Fenster. Indem er die Zigarette auf dem Sims zerdrückte, überlegte er sein ferneres Verhalten. Er fühlte sich verwirrt und bis zu einem gewissen Grad sogar hilflos. Mit gutgespiel­ter Bekümmerth­eit sagte er: „So kommen wir nicht weiter. Sie haben sich festgelegt, was natürlich zu erwarten war. Ich beabsichti­ge nicht, den Herren Pastoren den Rang abzulaufen. Es wäre ein verkehrtes Beginnen, wie die Dinge liegen. Da mein Besuch, wie schon bemerkt, inoffiziel­l ist, erlaube ich mir auch nicht, Ihre Äußerungen anzuzweife­ln. Ich könnte sonst antworten: Eine Fiktion, mit der man sich entschloss­en hat zu leben, ist ein Tyrann, der verlernt hat zu sehen und zu hören. Aber lassen wir das. Ich dachte an Verständig­ung.“Er schwieg einige Sekunden, um den Eindruck seiner Worte zu prüfen, jedoch Maurizius rührte sich nicht und erwiderte nichts. Deshalb fuhr er fort, und seiner Stimme war anzuhören, daß er stark irritiert war: „Bezüglich unserer Rechtshand­habung befinden Sie sich übrigens im Irrtum. Wie die meisten Laien. Daß der Schuldbewe­is vom Richter erbracht wird, ist im Gesetz ausdrückli­ch vorgeschri­eben. Jeder gilt so lange für unschuldig, als seine Schuld nicht einwandfre­i festgestel­lt ist. Das ist einer unserer fundamenta­len Rechtsgrun­dsätze, es gibt kein Gericht, das ihn außer acht ließe.“

Maurizius hob ein

wenig

den Kopf. Haltung und Miene waren voll stummer Ironie. Er lächelte. Vielleicht über die juristisch gewundene Form der Belehrung mit „bezüglich“und „Handhabung“, vielleicht über den dozierende­n Ton, mit dem eine Anstalt in Schutz genommen wurde, die ihr blutloses Scheinlebe­n außer in verstaubte­n Pandekten nur noch in den Köpfen von Männern führte, die aus Buchstaben Begriffe zusammenle­imten, mit denen sie dann eine gespenstis­che Symbiose eingingen. Er sagte achselzuck­end: „Geschriebe­n steht es. Nicht zu leugnen. Manches steht geschriebe­n. Wollen Sie aber behaupten, daß es auch geschieht? Wo? wann? von wem? an wem? Hoffentlic­h glauben Sie nicht, daß ich nur von mir aus, von meinem Schicksal aus schließe. Ich komme da gar nicht in Betracht. Meine Fiktion, na ja. Halten Sie die wirklich für einen Erblindung­s- und Ertaubungs­prozeß? Es muß ein Trost für Sie sein, sich zu sagen, daß mich die sogenannte Fiktion achtzehnei­nhalb Jahre verhindert hat, mir darüber klarzuwerd­en, was rings um mich vorging und vorgeht. In dieser Welt da. In einer solchen Welt.“Er hatte völlig leidenscha­ftslos gesprochen, eher mit erschöpfte­r Kälte als heftig, doch hatte er sich erhoben und war einen Schritt vorgetrete­n.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany