Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wer sind wir? Film der Woche
Nach „Get Out“geht Jordan Peele in seinem neuen Horrorstreifen von einer interessanten Idee aus: Am meisten Angst haben die Menschen vor sich selbst. Das führt im Film zu unheimlichen Begegnungen
Mit dem Horrorfilm „Get Out“legte Jordan Peele vor zwei Jahren ein fulminantes Regiedebüt vor. Innerhalb der Grenzanlagen des Genres inszenierte er eine beißende Gesellschaftssatire, die weltweit 255 Millionen Dollar einspielte und mit dem Oscar für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde. In seinem neuen Werk „Wir“nimmt Peele das Genrekino erneut mit Effizienz und Intelligenz für sich in Gebrauch.
Der Film beginnt im Jahr 1986 auf einem Jahrmarkt am Meer. „Finde Dich selbst“steht in flackernder Neonschrift auf dem Spiegelkabinett, in das es die zehnjährige Adelaide (Madison Curry) hineinzieht. Darin trifft sie auf ein Mädchen aus Fleisch und Blut, das genauso aussieht wie sie selbst. Nach dieser klassischen AnfangsschockSequenz spult der Film vor in die heutige Zeit. Adelaide Wilson (Lupita Nyong’o) ist inzwischen selbst Mutter zweier Kinder und mit ihrem Mann Gabe (Winston Duke) auf dem Weg in den Urlaub. Im Ferienhaus ihrer verstorbenen Mutter und bei einem Ausflug an den Strand von Santa Cruz werden die verdrängten Erinnerungen wieder wach. „Da steht eine Familie in der Auffahrt“, sagt eines Abends ihr zehnjähriger Sohn Jason (Evan Alex). Bewegungslos verharren vier Gestalten in roten Overalls vor dem Haus, die sich bei genauerem Hinsehen als leicht heruntergekommenes Ebenbild der Wilsons erweisen. Und schon bald wird klar, dass die Nachbildungen ihren Vorbildern nach dem Leben trachten.
In „Wir“geht Peele von der einfachen Prämisse aus, dass der Mensch am meisten Angst vor sich selbst hat, und setzt diese Grundannahme in aller Wortwörtlichkeit höchst effizient in Szene. Tief unter der Erde lebt eine düstere, animalischere Version des eigenen Ichs, die hier nun mit aller Gewalt die Herrschaft übernehmen will. Eine wahrhaft gruselige Vorstellung, mit der Peele hier unterbewusste Ängste vor dem eigenen abgespaltenen Bösen auf äußerst plastische Weise ins Bild setzt.
Aber natürlich greift Peeles Metaphorik auch weit über das individuell Psychologische hinaus. Auf eine nationale Traumatherapie verweist nicht nur das Bekenntnis der Monster „Wir sind Amerikaner“, sondern auch der Original-filmtitel „Us“, der als Kürzel für „United States“gelesen werden kann. Anders als im Vorgängerfilm „Get Out“spielt „Wir“hier die gesellschaftspolitischen Verweise nicht direkt an, sondern schafft Assoziationsräume, die Deutungsmuster in verschiedene Richtungen eröffnen. So lässt sich der Film auch als düsterer Kommentar auf die Diskrepanz zwischen digitaler Selbstdarstellung und eigenem physischen Sein, auf die Angst vor Identitätsverlust und dem Lebensgefühl einer fremdgesteuerten Existenz interpretieren.
Vor allem jedoch ist „Wir“ein verdammt gut gemachter Film, der durch Originalität, Klarheit, präzises Handwerk und eine gelungene Abmischung von Schrecken und Humor überzeugt. Alles richtig gemacht hat Peele auch bei der Besetzung. Der Plot bringt es mit sich, dass alle Hauptakteure Doppelrollen spielen müssen, und alle Beteiligten bauen die Zweigesichtigkeit ihrer Charaktere zu einer faszinierenden Seherfahrung aus. Lupita Nyong’o („12 Years a Slave“) erweist sich als schauspielerische Naturgewalt, die den Film mit enormer Präsenz zusammenhält. Nach George Tillmans „The Hate U Give“, Barry Jenkins „Beale Street“beweist nun auch „Wir“eindrücklich, dass die interessantesten Impulse in Hollywood derzeit von afroamerikanischen Filmemachern ausgehen.