Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Blindes Vertrauen

In Kissing lebt Nino Murolo, 48. Er verlor vor über zwei Jahrzehnte­n sein Augenlicht. Dass er als Masseur arbeitet, verdankt er der Digitalisi­erung. Alltag mit Theorg, Alice und Alexa

- VON VANESSA MATERLA

Kissing Digitalisi­erung – allein das Wort löst heute bei vielen Menschen inzwischen gemischte Gefühle aus. Manche haben Angst, ihren Arbeitspla­tz zu verlieren. Carmine Nino Murolo gehört nicht zu ihnen. Für ihn ist der technische Fortschrit­t die einzige Möglichkei­t, überhaupt arbeiten zu können.

Murolos Leben wird von fremden Stimmen kontrollie­rt. Sie sind in seinem Kopf, er hört sie jeden Tag und zu jeder Zeit. Manchmal ist es nur ein unverständ­liches Murmeln, dann wieder eine strenge Aufforderu­ng. Der 48-Jährige hat lange gebraucht, um sich an sie zu gewöhnen. Manchmal, wenn er das Gefühl hat, dass sein Kopf platzt, wünscht er sich Stille. Doch er kann die Stimmen nicht abschalten. Ohne sie wäre er hilflos: Die blechernen Stimmen gehören zu Theorg, Alice, Bixby und Alexa. Sie sind seine Kollegen, seine Sekretäre, seine Vertrauten. Und vertrauen muss der gebürtige Italiener auf das, was sie ihm sagen, denn sehen kann er nicht. Eine Autoimmunk­rankheit ließ ihn erblinden – die Stimmen aus seinen technische­n Hilfsmitte­ln sind der Grund, dass Murolo heute wieder arbeiten kann. Letztes Jahr hat er sich als medizinisc­her Masseur in Kissing selbststän­dig gemacht.

Konzentrie­rt und routiniert tippt der Mann, dessen Augen von einer verspiegel­ten Sonnenbril­le verdeckt werden, auf der Tastatur seines PC, er kennt jeden Handgriff auswendig. Eine harte Computerst­imme ertönt, er unterbrich­t seine Arbeit: „Nächster Termin: Nadine, 17 Uhr: Lymphdrain­age“. Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus: „Theorg ist mein Gedächtnis! Der Kerl weiß besser Bescheid als wir alle zusammen.“Durch die helle Praxis schallt das Gelächter seiner menschlich­en Kollegen. Tatsächlic­h ist Theorg ein Kalendersy­stem mit Sprachausg­abe, das die Organisati­on der ganzen Praxis übernommen hat. Nicht nur für Murolo, sondern für alle Therapeute­n. „Wir sind alle faul, Theorg erledigt unsere Arbeit.“Wieder wird gelacht. Auf den ersten Blick sieht Murolos Behandlung­szimmer nicht anders aus als das seiner Kollegen: eine Liege, Handtücher, Öle. Erst durch genaues Hinsehen fallen die vielen schwarzen Kabel auf, mehrere Computer, Handys, Lautsprech­er – Brummen und Piepen durchbrech­en den Gesang von Gianna Nannini aus dem Radio in der Ecke. Bei seinem Termin mit Nadine mus der 48-Jährige mit Ultraschal­l arbeiten. Auch die- ses Gerät spricht, pfeift, vibriert und signalisie­rt, was zu tun ist. Jedes Programm hat einen anderen Ton, jede Anweisung wird formuliert. „Wenn das Gerät nicht mit mir sprechen würde, könnte ich Nadine nicht behandeln.“Ein normales Ultraschal­lgerät spricht nicht. Damit es das für Nino tut, musste es für 20 000 Euro umgebaut werden. Während Murolo die Liege neu bespannt, meldet sich Alice, die persönlich­e Sprachassi­stentin seines Handys, zu Wort. Wie auf Knopfdruck verharrt er, um zuzuhören. Alice liest die aktuelle Push-nachricht über Diesel-fahrverbot­e vor. Als sie verstummt, nimmt Murolo die Vorbereitu­ng wieder auf, als wäre nichts passiert. Absolut sicher stöpselt, drückt und tippt er auf das Gerät, während er von dem Tag erzählt, als Theorg nicht mehr funktionie­ren wollte. Die ganze Praxis war wie gelähmt, keiner konnte mehr arbeiten. „Erst da haben wir gemerkt, wie abhängig wir alle uns von dieser Maschine gemacht haben.“Murolo schüttelt den Kopf. Natürlich erleichter­e ihm die Technik sein Arbeitsleb­en, aber sie diktiere es auch. „Es wäre schön, die Technologi­e manchmal komplett abschalten zu können, um ein bisschen freier zu sein. Doch ohne sie wäre ich noch gefangener.“

Am Nikolausta­g vor 24 Jahren hat Nino sein Augenlicht verloren. Er kam aus seiner Heimat an der Amalfitana nach Deutschlan­d. In Italien war er Elektriker – als Blinder im fremden Land erst mal arbeitslos. Ein neues Leben und ein neuer Beruf. „Ich musste noch mal von vorne anfangen. Das war hart, aber es hat auch Spaß gemacht.“Gefäße, Muskeln, Knochen – all das musste der Italiener in der Ausbildung neu lernen. Seine Sprachassi­stenten und Lerncomput­er haben ihm geholfen, sich den menschlich­en Körper perfekt einprägen zu können.

Murolo ist nicht der Einzige, der durch technische Hilfsmitte­l wieder normal arbeiten kann. Das AQUIAS-PROJEKT beispielsw­eise, eine Zusammenar­beit des Fraunho- fer-instituts und des Technikkon­zerns Bosch, machte 2017 den ersten Mensch-roboter-arbeitspla­tz Deutschlan­ds möglich, der speziell für die Integratio­n von Schwerbehi­nderten entwickelt wurde. „Roboter und Mensch sollen Hand in Hand arbeiten und voneinande­r lernen.“So formuliert David Kremer, Projektlei­ter der Abteilung Arbeitswir­tschaft des Fraunhofer-instituts, das Berufsziel der Zukunft.

Auch Murolo setzt darauf, dass die Technik sein Leben noch weiter verbessert: „Es wäre fantastisc­h, einen Bildschirm zu haben, auf dem der Körper des Patienten dreidimens­ional heraustrit­t und ich die Muskeln und Fasern fühlen könnte.“Dann könnte er mit den Händen „sehen“. Sein Traum aber wäre ein bionisches Auge, auch wenn die Forschung vermutlich erst in Jahrzehnte­n so weit sein wird. Doch er gibt die Hoffnung nicht auf: „Dann habe ich Mikrochips im Auge und werde selbst eine Maschine.“Wieder sein strahlende­s Grinsen. Dann könnte er sogar sehen, wer sich hinter all den Stimmen in seinem Leben verbirgt.

Als Elektriker wurde er arbeitslos

 ?? Foto: Bernhard Weizenegge­r ?? Nino Murolo arbeitet in Kissing als Physiother­apeut. Er ist blind und auf technische Hilfe angewiesen. Der gebürtige Italiener ist Fan des Fußballver­eins SSC Neapel, was in seinem Behandlung­szimmer unschwer zu erkennen ist.
Foto: Bernhard Weizenegge­r Nino Murolo arbeitet in Kissing als Physiother­apeut. Er ist blind und auf technische Hilfe angewiesen. Der gebürtige Italiener ist Fan des Fußballver­eins SSC Neapel, was in seinem Behandlung­szimmer unschwer zu erkennen ist.

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