Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Die Pflegedienste sind im Krisenmodus
Christine Deschler leitet in Augsburg einen ambulanten Dienst mit 150 Mitarbeitern. Die aktuelle Situation ist für sie eine große Herausforderung. Sie appelliert, Pflegekräfte und Pflegebedürftige müssten jetzt gegenseitig gut auf sich aufpassen
Seit 23 Jahren leitet Christine Deschler im Augsburger Stadtteil Bärenkeller einen ambulanten Pflegedienst, der mit rund 150 Mitarbeitenden zu einem der großen Anbieter zählt. Von daher ist die gelernte Kinderkrankenschwester und Palliativfachkraft daran gewöhnt zu organisieren, zu planen, zu moderieren und mit neuen Situationen fertigzuwerden. Doch was sie jetzt mit dem Ausbruch des Coronavirus erlebt, geht über das normale Maß weit hinaus. „Ich bin täglich von früh bis spät komplett im Krisenmodus“, berichtet die Chefin des Pflegedienstes. „Ich kläre Patienten und Mitarbeiter auf, schule Hygieneregeln und bin, da bei den Behörden niemand mehr telefonisch durchkommt, auch noch der erweiterte Arm des Gesundheitsamtes.“
Während viele Firmen derzeit die Arbeit herunterschrauben oder ihre Mitarbeiter ins Homeoffice schicken, ist Entschleunigung im Pflegebereich Fehlanzeige: Denn die Patienten sind auf den manchmal mehrmals täglichen Besuch der Fachkräfte angewiesen. Aktuell versorgen in Augsburg 68 ambulante Pflegedienste verschiedener Träger mehrere Tausend Menschen überwiegend in den eigenen vier Wänden – auch in Zeiten von Corona.
Die Ausnahmesituation erhöht den Organisationsaufwand nicht nur bei Christine Deschler. „Am Montag beispielsweise waren wir durch die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten stark damit beschäftigt, Lösungen für bei uns beschäftige Mütter, darunter vor allem Alleinerziehende, zu finden, deren Kinder plötzlich zu Hause betreut werden mussten.“Mittlerweile habe sich das eingependelt, sei es durch die Nutzung von Notbetreuung oder durch andere Lösungen.
Aktuell ist daher das Gros der bei Christine Deschler angestellten Pflegekräfte für die Patienten im Einsatz. Während einige Dienste ihren Mitarbeitern – unabhängig vom Gesundheitszustand des Patienten – generell Schutzkleidung mit Mundschutz verordnen, hält Christine Deschler von diesem Modell auch in Zeiten von Corona wenig: Zum einen führe das zu einer weiteren Verknappung der Schutzkleidung. Zum anderen schütze etwa der normale
Mundschutz, wie man ihn etwa aus Arztpraxen kenne, nicht ausreichend gegen das Virus. „Nach den Empfehlungen des Robert-kochinstituts sind nur die Ffp-atemschutzmasken wirklich wirksam. Doch die haben wir nicht und würden sie auch gar nicht bekommen, da sie nicht lieferbar sind.“
Stattdessen hat Deschler die Hygieneregeln für ihr Team noch einmal verschärft und sensibilisiert die Pflegekräfte fortwährend, darauf zu achten. Auch an die Patienten beziehungsweise die Angehörigen sei ein entsprechendes Schreiben herausgegangen. Denn Pflegekräfte und Pflegebedürftige müssen nach Einschätzung Deschlers jetzt „gegenseitig auf sich aufpassen“. Sie habe die Erfahrung gemacht, dass manche Patienten den Ernst der Lage verdrängten und zu locker mit der Situation umgingen, andere wiederum wegen der Virus-gefahr schon panisch seien. Ihren Mitarbeitenden hat die Geschäftsführerin deshalb nahegelegt, den Patienten bei ihren Besuchen Ruhe und auch ein Stück weit Normalität zu vermitteln. Denn insbesondere für Klienten, die keine Angehörigen haben, seien die
Pflegekräfte wichtige Bezugspersonen und wertvolle Gesprächspartner. „Das wollen wir auch jetzt aufrechterhalten, zumal die Menschen aufgrund der aktuellen Situation einen erhöhten Gesprächsbedarf haben“, betont Christine Deschler.
Erhöhten Gesprächsbedarf stellt die Chefin im Übrigen auch bei ihren Mitarbeitern fest. Selbst sonst eher introvertierte Menschen schauten jetzt stärker auf den anderen, erkundigten sich nach dessen Befinden, beobachtet sie. Ihr Fazit: „Das ist der soziale Faktor der Corona-krise.“
Klar ist der Geschäftsführerin allerdings, dass diese Krise in der nächsten Zeit zu einer noch größeren Herausforderung werden wird. „Noch können wir alle Patienten gut versorgen.“
Doch weder die Patienten noch die Mitarbeiter seien davor gefeit, sich mit dem Coronavirus zu infizieren und zu erkranken. Dass Angehörige dies befürchten, merkt Christine Deschler derzeit permanent. „Wir haben schon einige Absagen bekommen mit dem Hinweis, dass die Familie jetzt die Pflege selbst übernehmen will.“Da spiele neben der Tatsache, dass Angehörige aufgrund von Heimarbeit, Corona-urlaub oder Freistellung in diesen Tagen mehr Zeit für ihre Pflegebedürftigen haben, auch die Angst vor Außenkontakten eine große Rolle, vermutet sie. Um die Coronakrise zu bewältigen, setzt Christine Deschler darauf, dass die Arbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege jetzt an einem Strang zieht und ein einheitliches Vorgehen in der Krise – etwa beim Thema Schutzkleidung – kommuniziert wird.
Darüber hinaus wünscht sich die Geschäftsführerin, dass der mit dem Etikett „systemrelevant“versehene Pflegeberuf in der Gesellschaft generell einen höheren Stellenwert bekommt – auch wenn die Krise wieder überstanden ist. Über den Dank von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich in ihrer Tv-ansprache speziell auch Pflegekräfte wandte, hat sich die gelernte Krankenschwester schon mal gefreut. Merkel sagt: „Sie stehen für uns in diesem Kampf in der vordersten Linie.“Das kann Christine Deschler nur unterschreiben.