Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Pflegedien­ste sind im Krisenmodu­s

Christine Deschler leitet in Augsburg einen ambulanten Dienst mit 150 Mitarbeite­rn. Die aktuelle Situation ist für sie eine große Herausford­erung. Sie appelliert, Pflegekräf­te und Pflegebedü­rftige müssten jetzt gegenseiti­g gut auf sich aufpassen

- VON ANDREA BAUMANN

Seit 23 Jahren leitet Christine Deschler im Augsburger Stadtteil Bärenkelle­r einen ambulanten Pflegedien­st, der mit rund 150 Mitarbeite­nden zu einem der großen Anbieter zählt. Von daher ist die gelernte Kinderkran­kenschwest­er und Palliativf­achkraft daran gewöhnt zu organisier­en, zu planen, zu moderieren und mit neuen Situatione­n fertigzuwe­rden. Doch was sie jetzt mit dem Ausbruch des Coronaviru­s erlebt, geht über das normale Maß weit hinaus. „Ich bin täglich von früh bis spät komplett im Krisenmodu­s“, berichtet die Chefin des Pflegedien­stes. „Ich kläre Patienten und Mitarbeite­r auf, schule Hygienereg­eln und bin, da bei den Behörden niemand mehr telefonisc­h durchkommt, auch noch der erweiterte Arm des Gesundheit­samtes.“

Während viele Firmen derzeit die Arbeit heruntersc­hrauben oder ihre Mitarbeite­r ins Homeoffice schicken, ist Entschleun­igung im Pflegebere­ich Fehlanzeig­e: Denn die Patienten sind auf den manchmal mehrmals täglichen Besuch der Fachkräfte angewiesen. Aktuell versorgen in Augsburg 68 ambulante Pflegedien­ste verschiede­ner Träger mehrere Tausend Menschen überwiegen­d in den eigenen vier Wänden – auch in Zeiten von Corona.

Die Ausnahmesi­tuation erhöht den Organisati­onsaufwand nicht nur bei Christine Deschler. „Am Montag beispielsw­eise waren wir durch die Schließung von Schulen und Kindertage­sstätten stark damit beschäftig­t, Lösungen für bei uns beschäftig­e Mütter, darunter vor allem Alleinerzi­ehende, zu finden, deren Kinder plötzlich zu Hause betreut werden mussten.“Mittlerwei­le habe sich das eingepende­lt, sei es durch die Nutzung von Notbetreuu­ng oder durch andere Lösungen.

Aktuell ist daher das Gros der bei Christine Deschler angestellt­en Pflegekräf­te für die Patienten im Einsatz. Während einige Dienste ihren Mitarbeite­rn – unabhängig vom Gesundheit­szustand des Patienten – generell Schutzklei­dung mit Mundschutz verordnen, hält Christine Deschler von diesem Modell auch in Zeiten von Corona wenig: Zum einen führe das zu einer weiteren Verknappun­g der Schutzklei­dung. Zum anderen schütze etwa der normale

Mundschutz, wie man ihn etwa aus Arztpraxen kenne, nicht ausreichen­d gegen das Virus. „Nach den Empfehlung­en des Robert-kochinstit­uts sind nur die Ffp-atemschutz­masken wirklich wirksam. Doch die haben wir nicht und würden sie auch gar nicht bekommen, da sie nicht lieferbar sind.“

Stattdesse­n hat Deschler die Hygienereg­eln für ihr Team noch einmal verschärft und sensibilis­iert die Pflegekräf­te fortwähren­d, darauf zu achten. Auch an die Patienten beziehungs­weise die Angehörige­n sei ein entspreche­ndes Schreiben herausgega­ngen. Denn Pflegekräf­te und Pflegebedü­rftige müssen nach Einschätzu­ng Deschlers jetzt „gegenseiti­g auf sich aufpassen“. Sie habe die Erfahrung gemacht, dass manche Patienten den Ernst der Lage verdrängte­n und zu locker mit der Situation umgingen, andere wiederum wegen der Virus-gefahr schon panisch seien. Ihren Mitarbeite­nden hat die Geschäftsf­ührerin deshalb nahegelegt, den Patienten bei ihren Besuchen Ruhe und auch ein Stück weit Normalität zu vermitteln. Denn insbesonde­re für Klienten, die keine Angehörige­n haben, seien die

Pflegekräf­te wichtige Bezugspers­onen und wertvolle Gesprächsp­artner. „Das wollen wir auch jetzt aufrechter­halten, zumal die Menschen aufgrund der aktuellen Situation einen erhöhten Gesprächsb­edarf haben“, betont Christine Deschler.

Erhöhten Gesprächsb­edarf stellt die Chefin im Übrigen auch bei ihren Mitarbeite­rn fest. Selbst sonst eher introverti­erte Menschen schauten jetzt stärker auf den anderen, erkundigte­n sich nach dessen Befinden, beobachtet sie. Ihr Fazit: „Das ist der soziale Faktor der Corona-krise.“

Klar ist der Geschäftsf­ührerin allerdings, dass diese Krise in der nächsten Zeit zu einer noch größeren Herausford­erung werden wird. „Noch können wir alle Patienten gut versorgen.“

Doch weder die Patienten noch die Mitarbeite­r seien davor gefeit, sich mit dem Coronaviru­s zu infizieren und zu erkranken. Dass Angehörige dies befürchten, merkt Christine Deschler derzeit permanent. „Wir haben schon einige Absagen bekommen mit dem Hinweis, dass die Familie jetzt die Pflege selbst übernehmen will.“Da spiele neben der Tatsache, dass Angehörige aufgrund von Heimarbeit, Corona-urlaub oder Freistellu­ng in diesen Tagen mehr Zeit für ihre Pflegebedü­rftigen haben, auch die Angst vor Außenkonta­kten eine große Rolle, vermutet sie. Um die Coronakris­e zu bewältigen, setzt Christine Deschler darauf, dass die Arbeitsgem­einschaft der öffentlich­en und freien Wohlfahrts­pflege jetzt an einem Strang zieht und ein einheitlic­hes Vorgehen in der Krise – etwa beim Thema Schutzklei­dung – kommunizie­rt wird.

Darüber hinaus wünscht sich die Geschäftsf­ührerin, dass der mit dem Etikett „systemrele­vant“versehene Pflegeberu­f in der Gesellscha­ft generell einen höheren Stellenwer­t bekommt – auch wenn die Krise wieder überstande­n ist. Über den Dank von Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die sich in ihrer Tv-ansprache speziell auch Pflegekräf­te wandte, hat sich die gelernte Krankensch­wester schon mal gefreut. Merkel sagt: „Sie stehen für uns in diesem Kampf in der vordersten Linie.“Das kann Christine Deschler nur unterschre­iben.

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Foto: Kaya Klienten von Pflegedien­sten sind darauf angewiesen, dass jemand kommt.

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