Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Politik unter Druck

Jeder Tag, an dem nichts entschiede­n wird, kann ein verlorener Tag sein: Wie die Corona-krise die bewährten Mechanisme­n des Regierens außer Kraft setzt

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger-allgemeine.de

Außergewöh­nliche Situatione­n rufen nach außergewöh­nlichen Maßnahmen. In den mehr als 70 Jahren seit Bestehen der Bundesrepu­blik musste noch keine Regierung auch nur ansatzweis­e Entscheidu­ngen treffen, wie sie Bund und Ländern gerade in einem verzweifel­ten Stakkato der Seuchenbek­ämpfung abverlangt werden. Notgedrung­en setzen sie Grundrecht­e wie die Religions-, die Versammlun­gs- und die Bewegungsf­reiheit außer Kraft. Wie beiläufig verschulde­n sie sich auf Jahrzehnte hinaus, um den ökonomisch­en Kollaps abzuwenden – und wissen doch nicht, ob sie mit dieser Politik nun zu weit gehen oder womöglich noch nicht weit genug.

Der Druck, der auf der Kanzlerin, den Ministerpr­äsidenten, auf Ministern, Landräten und Bürgermeis­tern lastet, ist gewaltig. Bayern

unter eine Art kollektive­n Hausarrest zu stellen, wie die Regierung von Markus Söder es gerade getan hat, ist das eine, sich zu einer solchen Entscheidu­ng durchzurin­gen und sie am Ende auch mit einem Großaufgeb­ot an Polizisten durchzuset­zen, das andere. In atemberaub­endem Tempo hat die Coronakris­e die bewährten Mechanisme­n der deutschen Politik außer Kraft gesetzt, das Ringen zwischen Bund und Ländern, zwischen Regierung und Opposition und gelegentli­ch auch das Ringen innerhalb der Regierunge­n selbst. Jeder Tag, den zu lange diskutiert wird, kann heute ein verlorener Tag im Kampf gegen die rasant steigenden Infektions­zahlen sein. Einmal kurz Luft holen, die Dinge etwas sacken lassen, eine Entscheidu­ng auch einmal eine Nacht überschlaf­en: unmöglich im Krisenfrüh­jahr 2020.

Bund und Länder können den Problemen nur noch hinterherr­egieren. Anders als in der Finanzkris­e 2008 oder im Terrorherb­st 1977, als die Politik ebenfalls ein verstörtes Land am offenen Herzen operierte, ist die Bedrohungs­lage

nun um einiges diffuser. Terroriste­n kann man fangen, riskante Finanzprod­ukte verbieten – ein Virus dagegen ist ein ungleich gefährlich­erer und noch dazu unsichtbar­er Gegner. Alte Gewissheit­en zählen da nicht mehr, weder die von der schwarzen Null im Haushalt als Ausweis soliden Wirtschaft­ens noch die von unserem Gesundheit­ssystem, das angeblich so viel besser ist als das anderer Länder, für den Notfall aber nicht einmal genügend Schutzmask­en und Schutzanzü­ge eingelager­t hat. Auch über den Klimaschut­z, das große Thema der vergangene­n beiden Jahre, redet im Moment niemand mehr.

Was das alles mit der deutschen Politik macht und mit ihren Politikern – das lässt sich, wenn überhaupt, nur erahnen. In jedem Fall haben die vergangene­n Tage gezeigt, dass auch ein liberales, weltoffene­s Gemeinwese­n ein gewisses Maß an politische­r Härte akzeptiert, wenn sich ganz elementare Fragen stellen. Dass nicht nur autoritäre Regime, sondern auch demokratis­che Regierunge­n in der Lage sind, in Echtzeit zu entscheide­n, wenn es sein muss – und dass auch in der Politik der Ton die Musik macht. Wie Sebastian Kurz in Österreich gelingt es auch Markus Söder in Bayern oder Winfried Kretschman­n in Baden-württember­g, in der Sache klar zu sein und empathisch zugleich. Die Stunde der parteipoli­tischen Erbsenzähl­er schlägt schließlic­h noch früh genug. Sobald es ans Aufräumen geht, an den Kampf gegen die Rezession, an die hohen Folgekoste­n der Krise und die Verantwort­lichkeiten für Pannen wie die mit den fehlenden Schutzmask­en, werden die Stegners, die Göring-eckarts und Ziemiaks sich schnell zurückmeld­en.

Politik, das wusste schon Bismarck, ist die Kunst des Möglichen. Im Moment allerdings macht die Politik auch das Unmögliche möglich – das ist beruhigend und beängstige­nd zugleich.

Auch hier macht der Ton die Musik

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