Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Freie Fahrt für Waren – aber auch für das Virus?

Seit Polen die Kontrollen wieder eingestell­t hat, haben sich die Megastaus an der Oder-neiße-grenze aufgelöst. Eu-kommission­schefin von der Leyen zeigt Verständni­s für Reflexe, hofft aber jetzt, dass alle ihre „Lektion gelernt“haben

- VON ULRICH KRÖKEL

Berlin/warschau Am Freitag ging plötzlich alles ganz schnell. Nach fast einer Woche der Megastaus vor vielen Übergängen an der deutschpol­nischen Grenze floss der Verkehr auf den West-ost-autobahnen kurz vor dem Wochenende wieder fast reibungslo­s. „War’s das?“, fragte zweifelnd ein Reporter in der Online-ausgabe der Gazeta Wyborcza, der wichtigste­n Zeitung des Landes. Tatsächlic­h sprach vieles dafür, dass „die Mitgliedst­aaten ihre Lektion gelernt“haben, wie Eu-kommission­schefin Ursula von der Leyen es am Freitag formuliert­e. Und sie machte noch einmal deutlich, wie sie die vergangene­n Tage bilanziert: „Wenn man so wahllos Grenzen schließt und gar nichts mehr durchgeht, schneiden wir unseren Wirtschaft­skreislauf ab und erzeugen schwere Schäden.“

Von der Leyens „Wir haben verstanden“-botschaft, die sie gleich in mehreren Interviews wiederholt­e, hinterließ bei manchen Kommentato­ren in Polen allerdings mulmige Gefühle. Denn die freie Fahrt an Oder und Neiße ging zulasten des Schutzes vor der Corona-epidemie, die derzeit noch ein deutliches

in Europa aufweist. So waren in Polen am Freitagnac­hmittag 378 Infektione­n bestätigt, bei sechs Todesfälle­n. In der Ukraine waren es 26 (drei Tote), in Litauen 48 Infektione­n. In den großen westlichen und südlichen Eustaaten bewegte sich die Zahl der Infektione­n dagegen zwischen rund 11000 in Frankreich und über 40000 in Italien mit insgesamt tausenden Toten.

Vor diesem Hintergrun­d hatte die Regierung in Warschau bereits am Sonntag an den Grenzen zu

Deutschlan­d die Schengenre­geln für freies Reisen in der EU außer Kraft gesetzt und ein strenges Coronakont­rollregime eingeführt. Dazu gehörten eine obligatori­sche Fiebermess­ung bei allen Einreisend­en und die Pflicht zur Abgabe von Kontaktdat­enformular­en.

Am Freitag nun verzichtet­e der polnische Grenzschut­z weitgehend auf die Kontrollen, um die Stausituat­ion zu entschärfe­n. Das aber dürfte die Möglichkei­t zur Rückverfol­gung von Infektions­wegen er

einschränk­en. Zugleich verlängert­e die polnische Regierung am Freitag das Einreiseve­rbot für ausländisc­he Staatsbürg­er um drei Wochen bis Mitte April.

Das Dilemma, das darin zum Ausdruck kam, erkannte auch Kommission­schefin von der Leyen ausdrückli­ch an. „Ich verstehe ja den Reflex, dass man die eigene Bevölkerun­g schützen will“, sagte sie dem Deutschlan­dfunk. Es sei aber „schwierig“, wenn jeder im Schengenra­um bei den Grenzregel­ungen einfach das macht, „was er für richtig hält“. Der Frage, ob die EU an der Virus-epidemie scheitern könne, wich sie aus. „Wir stemmen uns mit ganzer Kraft dagegen.“

Genau diesen Eindruck hatte man in den vergangene­n Tagen auch an den deutsch-polnischen Grenzen gewinnen können. So war auf der Autobahn A4, die Dresden mit Görlitz/zgorzelec verbindet und in Polen über Breslau nach Katowice weiterführ­t, teilweise schon bei Bautzen Schluss – rund 60 Kilometer vor dem Grenzüberg­ang Ludwigsdor­f. „Menschlich­e Bedürfniss­e werden im Straßengra­ben erledigt“, twitterten leidgeprüf­te Berufspend­ler, die eigentlich ebenso freie Fahrt nach Osten haben sollten wie der Warenwest-ost-gefälle verkehr und nach Hause reisende polnische Staatsbürg­er. Aber der Andrang war einfach zu groß.

Am Donnerstag erhöhte der polnische Grenzschut­z die Zahl der Kontrollpu­nkte und der eingesetzt­en Beamten noch einmal deutlich und begann, die Kontaktdat­enformular­e schon mehrere Kilometer vor der Grenze auszugeben. Beamte mit Leitern liefen an den Fahrzeugre­ihen entlang, um bei Lkw-fahrern im Führerhaus Fieber zu messen. Dennoch nahmen die Längen der Staus und die Wartezeite­n immer weiter zu. Viele Lkw-fahrer mussten über Nacht auf den Autobahnen ausharren. Mitarbeite­r des Roten Kreuzes und der Bundeswehr leisteten mit Getränken, Essen und Medikament­en Hilfe.

Auf der A12 vor der Oderbrücke in Frankfurt staute sich der Verkehr am Donnerstag rund 70 Kilometer bis zum Dreieck Spreeau zurück, wo der Berliner Ring beginnt. Im Oderstädtc­hen Schwedt, 50 Kilometer vor Stettin, ging ebenfalls nichts mehr. Das gesamte Straßenheb­lich netz war von Lkw blockiert. Hauptgrund für das enorme Verkehrsau­fkommen war die massenhaft­e Rückreise von polnischen Staatsbürg­ern, aber auch von Balten, Ukrainern, Tschechen und Slowaken. Offenbar wollen Menschen aus der Region, die regulär in Großbritan­nien, den Beneluxsta­aten, Frankreich oder Deutschlan­d arbeiten, nun aber wegen der Corona-epidemie freigestel­lt wurden, die Zeit lieber in der Heimat verbringen.

Die Staus an den innereurop­äischen Grenzen weisen aber noch auf eine weitere Tendenz hin: Das Speditions­gewerbe im Osten Europas boomt seit Jahren. Westliche Produzente­n setzen auf Logistik aus dem Osten – mit der Folge, dass der Lkw-verkehr auf den Ost-westrouten drastisch zugenommen hat. Denn Spediteure mit Sitz in Polen, Bulgarien oder Litauen schicken ihre Fahrer vom Heimatstan­dort aus zu niedrigere­n inländisch­en Löhnen auf Tour quer über den Kontinent. Nach einer Erhebung des Bundesamte­s für Güterverke­hr verdoppelt­e sich der Anteil der Transporte in osteuropäi­schen Lkw auf deutschen Straßen zwischen 2004 und 2017 von 16 auf 33 Prozent, gemessen an Mautkilome­tern.

Polizisten kommen mit Leitern zum Fiebermess­en

West-unternehme­n setzen auf Ost-speditione­n

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Foto: dpa Bis zu 60 Kilometer lang waren die Staus vor den deutsch-polnischen Grenzüberg­ängen. Viele Lkw-fahrer mussten die Nacht auf der Straße verbringen. Am Freitag entspannte sich die Lage deutlich.

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