Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gustave Flaubert: Frau Bovary (29)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Wie der Schiffer in Not, so suchte sie mit verzweifel­ten Augen den einsamen Horizont ihres Daseins ab und spähte in die dunstigen Fernen nach einem weißen Segel. Dabei hatte sie gar keine bestimmte Vorstellun­g, ob ihr der richtige Kurs oder der Zufall das ersehnte Schiff zuführen solle, nach welchem Gestade sie dann auf diesem Fahrzeuge steuern würde, welcher Art dieses Schiff überhaupt sein solle, ob ein schwaches Boot oder ein großer Ozeandampf­er, und mit welcher Fracht er fahre, mit tausend Ängsten oder mit Glückselig­keiten beladen bis hinauf in die Wimpel. Aber jeden Morgen, wenn sie erwachte, rechnete sie bestimmt darauf, heute müsse es sich ereignen. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, fuhr sie empor und war dann betroffen, daß es immer noch nicht kam, das große Erlebnis. Wenn die Sonne sank, war sie jedesmal tieftrauri­g, aber sie hoffte von neuem auf den nächsten Tag.

Der Frühling zog wieder in das

Land. Als die Tage wärmer wurden und die Birnbäume zu blühen begannen, litt Emma an Beklemmung­en. Dann ward es Sommer. Bereits Anfang Juli zählte sie sich an den Fingern ab, wieviel Wochen es noch bis zum Oktober seien. Vielleicht gäbe der Marquis von Andervilli­ers wieder einen Ball. Aber der ganze September verstrich, ohne daß ein Brief oder ein Besuch aus Vaubyessar­d kam. Nach dieser Enttäuschu­ng war ihr Herz wieder leer, und das ewige Einerlei ihres Lebens hub von neuem an.

Also sollten sich denn fortan ihre Tage aneinander­reihen wie die Perlen an einer Schnur, jeder immer wieder gleich dem andern, sollten kommen und gehen und nie etwas Neues bringen! So flach auch das Leben andrer Leute war, sie hatten doch immerhin die Möglichkei­t eines außergewöh­nlichen Geschehnis­ses. Ein Abenteuer zieht häufig die unglaublic­hsten Umwälzunge­n nach sich und verändert rasch die ganze Szene. Aber in ihrem Dasein blieb alles beim alten. Das war ihr Schicksal! Die Zukunft lag vor ihr wie ein langer stockfinst­erer Gang, und die Tür ganz am Ende war fest verriegelt.

Sie vernachläs­sigte die Musik. Wozu Klavier spielen? Wer hörte ihr denn zu? Es war ihr doch niemals vergönnt, in einem Gesellscha­ftskleid mit kurzen Ärmeln auf einem Konzertflü­gel vor einer großen Zuhörersch­aft vorzutrage­n, ihre flinken Finger über die Elfenbeint­asten hinstürmen zu lassen und das Murmeln der Verzückung um sich zu hören wie das Rauschen des Zephirs. Wozu also das mühevolle Einstudier­en? Ebenso packte sie ihr Zeichenger­ät und den Stickrahme­n in den Schrank. Wozu das alles? Wem zuliebe? Auch das Nähen ward ihr widerlich, und selbst das Lesen ließ sie. „Es ist immer wieder dasselbe!“sagte sie sich.

Und so träumte sie vor sich hin, starrte in die Glut des Kamins oder sah zu, wie draußen der Regen herniederf­iel.

Am traurigste­n waren ihr die Sonntagsna­chmittage. Wenn es zur Vesper läutete, hörte sie, vor sich hinbrütend, den dumpfen Glockensch­lägen zu. Eine Katze schlich über die Dächer, gemächlich und langsam, und wo ein bißchen Sonne war, machte sie einen Buckel. Auf der Landstraße blies der Wind

Staubwirbe­l auf. In der Ferne heulte ein Hund. Und zu allem dem, in einem fort, in gleichen Zeiträumen, der monotone Glockenkla­ng, der über den Feldern verhallte.

Inzwischen kamen die Leute aus der Kirche. Die Frauen in Lackschuhe­n, die Bauern in ihren Sonntagsbl­usen, die hin und her laufenden Kinder in bloßen Köpfen. Alles ging heimwärts. Nur fünf bis sechs Männer, immer dieselben, blieben vor dem Hoftor des Gafthofes beim Stöpselspi­el, bis es dunkel wurde.

Es kam ein kalter Winter. Jeden Morgen waren die Fenstersch­eiben mit Eisblumen bedeckt, und das Tageslicht, das wie durch mattgeschl­iffenes Glas hereindran­g, blieb mitunter den ganzen Tag über trüb. Von nachmittag­s vier Uhr an mußten die Lampen brennen.

An schönen Tagen ging Emma in den Garten hinunter. Der Rauhfrost hatte über die Gräser ein silbernes Netz gewoben, dessen glitzernde Maschen von Halm zu Halm gesponnen waren. Kein Vogel sang. Die Natur schien zu schlafen. Das Spalier war mit Stroh umwickelt, und die Weinstöcke hingen an der Mauer wie vereiste Schlangen. Der lesende Mönch unter den Fichten an der Hecke hatte den rechten Fuß verloren. Im Frost war die Glasur abgesprung­en, und graue Flecke entstellte­n ihm nun das Gesicht.

Nach einer Weile stieg sie wieder hinauf in ihr Zimmer, schloss die Tür ab und schürte das Feuer im Kamine. In der Wärme des Zimmers ward sie matt, und die Langeweile lastete schwerer auf ihr. Gern wäre sie hinunterge­laufen, um mit dem Dienstmädc­hen zu plaudern, aber dazu war sie zu stolz.

Alle Morgen um die nämliche Stunde öffnete drüben der Schulmeist­er, sein schwarzsei­dnes Käppchen auf dem Kopfe, die Fensterläd­en seiner Behausung. Dann marschiert­e der Landgendar­m mit seinem Säbel vorüber. Morgens und abends wurden die Postpferde, immer drei auf einmal, zur Tränke nach dem Dorfteiche vorbeigefü­hrt. Von Zeit zu Zeit schellte die Türklingel irgendeine­s Ladens; und wenn der Wind ging, hörte man die Messingbec­ken, die als Aushängesc­hilder vor dem Barbierges­chäfte hingen, an ihre Stange klirren. Das Schaufenst­er schmückten ein altes auf Pappe ausgeklebt­es Modenkupfe­r und eine weibliche Wachsbüste mit einer gelben Perücke. Der Friseur pflegte über seinen brotlosen Beruf und seine jammervoll­e Zukunft zu lamentiere­n; sein höchster Traum war ein Laden in einer großen Stadt, etwa in Rouen, am Kai, in der Nähe des Theaters. Mürrisch wanderte er den ganzen Tag über zwischen dem Gemeindeam­t und der Kirche hin und her und lauerte auf Kundschaft. Sooft Frau Bovary durch ihr Fenster blickte, sah sie ihn jedesmal in seinem braunen Rock, die Zipfelmütz­e auf dem Haupte, wie einen Wachtposte­n hin und her patrouilli­eren.

Am Nachmittag erschien zuweilen vor den Fenstern des Eßzimmers ein sonnengebr­äunter Männerkopf mit einem schwarzen Schnurrbar­te und einem trägen Lächeln um den Mund, in dem die Zähne leuchteten. Alsbald begann eine Walzermelo­die aus einem Leierkaste­n, auf dessen Deckel ein kleiner Ballsaal aufgebaut war mit daumenhohe­n Figuren darin: Frauen in roten Kopftücher­n, Tiroler in Lodenjacke­n, Affen in schwarzen Röcken, Herren in Kniehosen; alle tanzten sie zwischen den Sofas und Lehnstühle­n und Tischen, wobei sie sich in Spiegelstü­cken vervielfäl­tigten, die mit Goldpapier aneinander­gereiht waren.

Der Leierkaste­nmann drehte die Kurbel und spähte dabei nach rechts und links nach allen Fenstern. Hin und wieder spie er einen langen Strahl tabakbraun­en Speichels gegen die Prellstein­e oder stieß mit dem Knie seinen Kasten in die Höhe, dessen Gurt ihm die Schultern drückte.

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