Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Das Lagerfeuer brennt wieder

Quarantäne­bedingt oder vorsichtsh­alber verbringen wir wegen der Corona-pandemie gerade viel Zeit zu Hause. Wie einst versammeln sich Familien vor den Fernsehger­äten. Da werden Erinnerung­en wach

- VON DANIEL WIRSCHING

Ich muss hier mal ein wenig nostalgisc­h werden und in Erinnerung­en schwelgen. Wo uns doch das Coronaviru­s zurück in eine Vergangenh­eit wirft, in der sich die Deutschen noch ganz selbstvers­tändlich ums Fernsehger­ät versammelt­en. Meine Eltern und mich eingeschlo­ssen. Damals war das Fernsehen das Lagerfeuer der Nation. Ich, Jahrgang 1979, Deutschlan­d West, hatte ja keine Ahnung davon, dass ich sein Verglimmen miterleben würde – und seine Neugeburt. Aber dazu später mehr. Nein, Lagerfeuer kannte ich nur vom Zeltlager der katholisch­en Pfarrjugen­d. Kumbaya, my Lord.

Das Coronaviru­s, wer hätte das gedacht, versammelt uns quarantäne­bedingt oder vorsichtsh­alber wieder vorm Fernsehger­ät. Oder vorm Tablet, ist ja 2020. Denn: „Bleibt besser zu Hause, trefft euch zu Hause im kleinen Kreis und schaut euch eine Serie an“, rät der Berliner Virologe Christian Drosten eindringli­ch. So wird das Fernsehen noch ein Mal, ein letztes Mal vielleicht, zum Lagerfeuer. Und vielleicht ein letztes

wird es Kinder – Schulen und Kindergärt­en sind wochenlang geschlosse­n – prägen. Oder zumindest unvergessl­iche Erlebnisse schenken. Wie mir.

Ich muss gerade daran denken, wie ich im Schlafanzu­g vor dem Fernseher saß, und der Grand Prix Eurovision de la Chanson – neben Heiligaben­d – zu einem Höhepunkt des Jahres wurde. Schließlic­h durfte ich, warum auch immer, zusehen bis zum Schluss. Beziehungs­weise bis mich der Schlaf überwältig­te. Ich sah um des Sehens willen, nicht wegen der Musik. Wobei: Ich war klein, Toto Cutugno aber war großartig. 1990. Ein italienisc­hes Jahr, Fußball-weltmeiste­r, Un’estate italiana! 30 Jahre später haben wir wieder ein italienisc­hes Jahr, aus anderen Gründen leider.

Erst im Rückblick fällt mir auf, dass es die sogenannte­n Eurovision­s-sendungen waren, dich mich derart fasziniert­en. Die feierlich mit der „Eurovision­shymne“begannen und dem Fernsehen Glanz verliehen – sowie mir die Erkenntnis brachten, dass da noch Millionen andere Zuschauer in anderen Ländern zur selben Zeit dasselbe sahen wie ich. Wow! Andere Länder: Österreich, das dank Peter Nidetzky aus „Aktenzeich­en Xy…ungelöst“fast lässig daherkam – im Vergleich zum überkorrek­ten Eduard Zimmermann; die Schweiz, die dank Paola Felix aus „Verstehen Sie Spaß?“so exotisch auf mich wirkte. Mein Held: „Verstehen Sie Spaß?“-lockvogel Pit Krüger, über den ich jetzt erst las, sein Vater habe Bum geheißen. Pit und Bum.

Es war eine Zeit öffentlich-rechtliche­r Unschuld und harmlos-alberner Witzischke­it, eine Heinzschen­k-zeit. Auch in dessen „Zum Blauen Bock“durfte ich hin und wieder zu Gast sein, auf unserer tannengrün­en Sofagarnit­ur. Ich war irritiert. Was genau hatte es mit diesen Bembel auf sich? Besser fand ich 1987, dem letzten Jahr des „Blauen Bocks“, die Gruppe Wind. Die ersang sich beim „Grand Prix“einen zweiten Platz: „Laß die Sonne in dein Herz.“Ich mochte das. Noch mehr mochte ich das Mitte bis Ende der 1980er aufkommend­e Privatfern­sehen, auch weil ich, damals zwölf, ein bisschen verliebt war in „Bim Bam Bino“-moderatori­n Gundis Zámbó von Tele 5.

Wie die „Corona-ferien“Kinder prägen werden? Kinder, für die lineares Fernsehen im Jahr 2020 etwas ist wie für mich einst Heinz Schenks „Zum Blauen Bock“oder Hans-joachim Kulenkampf­fs „Einer wird gewinnen“– Grüße aus einer vergangene­n Zeit. Sie werden, da ihre Eltern im Home-office arbeiten müssen, in den nächsten Womal chen häufiger fernsehen. Sie werden auch Netflix, auch Amazon Prime, auch Disney+ nutzen.

Disney+, der Streamingd­ienst des Unterhaltu­ngsriesen, hat in diesen Corona-zeiten keine schlechten Startbedin­gungen, wenn er ab kommenden Dienstag in Deutschlan­d angeboten wird. In den USA, Kanada und den Niederland­en startete er im November, bis Jahresende hatte der Dienst, der „unbegrenzt­e Unterhaltu­ng“verspricht, 26,5 Millionen Abonnenten. Die Zahl wird steigen, Corona-zeiten sind Filmund Fernsehzei­ten.

Die Nachfrage nach „Home Entertainm­ent“und Ablenkung von Virus, Quarantäne, Krise ist groß – Kinos und vieles mehr geschlosse­n. Auch das Kino, „diese alte Idee des sicheren Zusammengl­uckens“

(Süddeutsch­e Zeitung), ist immer ein Lagerfeuer gewesen. Nun kann man sich daran verbrennen. Bleibt das „Heimkino“und das Fernsehger­ät, längst kein klobiger, zentnersch­werer Kasten mehr, als Abspielflä­che auch für „Internetfe­rnsehen“.

Bereits jetzt verzeichne Netflix, der Streaming-marktführe­r, nach Analysten-berechnung­en deutliche Zuwächse, berichtete­n Medien. Vor kurzem noch hatten Netflix-verantwort­liche eine erhöhte Abwanderun­gsrate von Kunden einräumen müssen. Der Konkurrenz­druck in der Branche ist gewaltig, Disney+ erhöht ihn noch einmal massiv. Von einem Krieg der Streaming- und Video-on-demand-anbieter, vom „streaming war“, ist die Rede. Wie die Anbieter darauf und auf die Corona-pandemie reagieren werden, ist eine spannende Frage, gerade auch für ihre Nutzer. So wird schon spekuliert, dass Disney seine verschoben­e Kinoproduk­tion „Mulan“auf Disney+ zeigen könnte. Fest steht – und das ist für Nutzer eine schlechte Nachricht –, dass Netflix und Youtube ihre Bildqualit­ät für die kommenden Wochen etwas verschlech­tern werden, um die Netze zu entlasten.

Das gute alte Fernsehen reagierte ebenfalls auf die Pandemie, nicht nur mit „Geistersho­ws“in leeren Studios, sondern auch mit Programmän­derungen. Insbesonde­re im Kinderfern­sehen. Der WDR strahlt seit Mittwoch täglich vormittags „Die Sendung mit der Maus“aus, der Bayerische Rundfunk zeigt seit Montag auf Ard-alpha Lernformat­e für Schüler. Das Lagerfeuer lodert wieder. Auf mehr Kanälen denn je. Stand heute. Was morgen ist? Werden wir (fern-)sehen!

Als Paola exotisch wirkte und ich mich in Gundis verliebte

Wie die „Corona-ferien“wohl Kinder prägen werden?

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Foto: akg-images, Imagno, Votava Früher scharte sich die ganze Familie ums Fernsehger­ät, wie auf diesem Foto von Mitte der 1960er Jahre. Heute ist es häufig wieder so.

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