Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Das Lagerfeuer brennt wieder
Quarantänebedingt oder vorsichtshalber verbringen wir wegen der Corona-pandemie gerade viel Zeit zu Hause. Wie einst versammeln sich Familien vor den Fernsehgeräten. Da werden Erinnerungen wach
Ich muss hier mal ein wenig nostalgisch werden und in Erinnerungen schwelgen. Wo uns doch das Coronavirus zurück in eine Vergangenheit wirft, in der sich die Deutschen noch ganz selbstverständlich ums Fernsehgerät versammelten. Meine Eltern und mich eingeschlossen. Damals war das Fernsehen das Lagerfeuer der Nation. Ich, Jahrgang 1979, Deutschland West, hatte ja keine Ahnung davon, dass ich sein Verglimmen miterleben würde – und seine Neugeburt. Aber dazu später mehr. Nein, Lagerfeuer kannte ich nur vom Zeltlager der katholischen Pfarrjugend. Kumbaya, my Lord.
Das Coronavirus, wer hätte das gedacht, versammelt uns quarantänebedingt oder vorsichtshalber wieder vorm Fernsehgerät. Oder vorm Tablet, ist ja 2020. Denn: „Bleibt besser zu Hause, trefft euch zu Hause im kleinen Kreis und schaut euch eine Serie an“, rät der Berliner Virologe Christian Drosten eindringlich. So wird das Fernsehen noch ein Mal, ein letztes Mal vielleicht, zum Lagerfeuer. Und vielleicht ein letztes
wird es Kinder – Schulen und Kindergärten sind wochenlang geschlossen – prägen. Oder zumindest unvergessliche Erlebnisse schenken. Wie mir.
Ich muss gerade daran denken, wie ich im Schlafanzug vor dem Fernseher saß, und der Grand Prix Eurovision de la Chanson – neben Heiligabend – zu einem Höhepunkt des Jahres wurde. Schließlich durfte ich, warum auch immer, zusehen bis zum Schluss. Beziehungsweise bis mich der Schlaf überwältigte. Ich sah um des Sehens willen, nicht wegen der Musik. Wobei: Ich war klein, Toto Cutugno aber war großartig. 1990. Ein italienisches Jahr, Fußball-weltmeister, Un’estate italiana! 30 Jahre später haben wir wieder ein italienisches Jahr, aus anderen Gründen leider.
Erst im Rückblick fällt mir auf, dass es die sogenannten Eurovisions-sendungen waren, dich mich derart faszinierten. Die feierlich mit der „Eurovisionshymne“begannen und dem Fernsehen Glanz verliehen – sowie mir die Erkenntnis brachten, dass da noch Millionen andere Zuschauer in anderen Ländern zur selben Zeit dasselbe sahen wie ich. Wow! Andere Länder: Österreich, das dank Peter Nidetzky aus „Aktenzeichen Xy…ungelöst“fast lässig daherkam – im Vergleich zum überkorrekten Eduard Zimmermann; die Schweiz, die dank Paola Felix aus „Verstehen Sie Spaß?“so exotisch auf mich wirkte. Mein Held: „Verstehen Sie Spaß?“-lockvogel Pit Krüger, über den ich jetzt erst las, sein Vater habe Bum geheißen. Pit und Bum.
Es war eine Zeit öffentlich-rechtlicher Unschuld und harmlos-alberner Witzischkeit, eine Heinzschenk-zeit. Auch in dessen „Zum Blauen Bock“durfte ich hin und wieder zu Gast sein, auf unserer tannengrünen Sofagarnitur. Ich war irritiert. Was genau hatte es mit diesen Bembel auf sich? Besser fand ich 1987, dem letzten Jahr des „Blauen Bocks“, die Gruppe Wind. Die ersang sich beim „Grand Prix“einen zweiten Platz: „Laß die Sonne in dein Herz.“Ich mochte das. Noch mehr mochte ich das Mitte bis Ende der 1980er aufkommende Privatfernsehen, auch weil ich, damals zwölf, ein bisschen verliebt war in „Bim Bam Bino“-moderatorin Gundis Zámbó von Tele 5.
Wie die „Corona-ferien“Kinder prägen werden? Kinder, für die lineares Fernsehen im Jahr 2020 etwas ist wie für mich einst Heinz Schenks „Zum Blauen Bock“oder Hans-joachim Kulenkampffs „Einer wird gewinnen“– Grüße aus einer vergangenen Zeit. Sie werden, da ihre Eltern im Home-office arbeiten müssen, in den nächsten Womal chen häufiger fernsehen. Sie werden auch Netflix, auch Amazon Prime, auch Disney+ nutzen.
Disney+, der Streamingdienst des Unterhaltungsriesen, hat in diesen Corona-zeiten keine schlechten Startbedingungen, wenn er ab kommenden Dienstag in Deutschland angeboten wird. In den USA, Kanada und den Niederlanden startete er im November, bis Jahresende hatte der Dienst, der „unbegrenzte Unterhaltung“verspricht, 26,5 Millionen Abonnenten. Die Zahl wird steigen, Corona-zeiten sind Filmund Fernsehzeiten.
Die Nachfrage nach „Home Entertainment“und Ablenkung von Virus, Quarantäne, Krise ist groß – Kinos und vieles mehr geschlossen. Auch das Kino, „diese alte Idee des sicheren Zusammengluckens“
(Süddeutsche Zeitung), ist immer ein Lagerfeuer gewesen. Nun kann man sich daran verbrennen. Bleibt das „Heimkino“und das Fernsehgerät, längst kein klobiger, zentnerschwerer Kasten mehr, als Abspielfläche auch für „Internetfernsehen“.
Bereits jetzt verzeichne Netflix, der Streaming-marktführer, nach Analysten-berechnungen deutliche Zuwächse, berichteten Medien. Vor kurzem noch hatten Netflix-verantwortliche eine erhöhte Abwanderungsrate von Kunden einräumen müssen. Der Konkurrenzdruck in der Branche ist gewaltig, Disney+ erhöht ihn noch einmal massiv. Von einem Krieg der Streaming- und Video-on-demand-anbieter, vom „streaming war“, ist die Rede. Wie die Anbieter darauf und auf die Corona-pandemie reagieren werden, ist eine spannende Frage, gerade auch für ihre Nutzer. So wird schon spekuliert, dass Disney seine verschobene Kinoproduktion „Mulan“auf Disney+ zeigen könnte. Fest steht – und das ist für Nutzer eine schlechte Nachricht –, dass Netflix und Youtube ihre Bildqualität für die kommenden Wochen etwas verschlechtern werden, um die Netze zu entlasten.
Das gute alte Fernsehen reagierte ebenfalls auf die Pandemie, nicht nur mit „Geistershows“in leeren Studios, sondern auch mit Programmänderungen. Insbesondere im Kinderfernsehen. Der WDR strahlt seit Mittwoch täglich vormittags „Die Sendung mit der Maus“aus, der Bayerische Rundfunk zeigt seit Montag auf Ard-alpha Lernformate für Schüler. Das Lagerfeuer lodert wieder. Auf mehr Kanälen denn je. Stand heute. Was morgen ist? Werden wir (fern-)sehen!
Als Paola exotisch wirkte und ich mich in Gundis verliebte
Wie die „Corona-ferien“wohl Kinder prägen werden?