Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein Lehrstück des Rechtspopu­lismus?

Der weltweite Erfolg des Romans von Andrea Scurati über den Aufstieg Benito Mussolinis sorgt für Streit. Von einer wuchtigen Inszenieru­ng der Geschichte zur Frage nach heutigen Parallelen

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Eigentlich schien in diesem Frühjahr 1920, vor jetzt genau 100 Jahren also, schon alles vorbei. Benito Mussolini, 37, und Zeitungsma­cher, hatte zwar die „Arditi“hinter sich versammelt, jene wilden Krieger der Italiener im Ersten Weltkrieg, aus denen dereinst die Schwarzhem­den werden sollten, die sich im noch frischen Frieden nun aber überflüssi­g und vor allem undankbar behandelt fühlten; und er hatte auch ein Jahr zuvor die „Fasci di Combattime­nto“gegründet, die Wurzel einer Bewegung, die demnach begriffsbi­ldend als Faschisten bezeichnet werden sollten.

Doch nun war doch die Zeit der Roten gekommen, zu denen er einst gehört hatte, die ihn aber als Verräter sahen, seit er zum Interventi­onisten geworden war, zum Befürworte­r eines Kriegseint­ritts Italiens. Die Sozialiste­n gewannen die Arbeiter für sich und bald schon Mehrheiten in den Parlamente­n, also die Macht. Wie es ihm, Mussolini, trotzdem gelang, sich bald schon zum Hoffnungst­räger emporzuarb­eiten und schon 1925 zum Duce, zum Führer eines Regimes, krönen zu lassen, das beobachtet­e bekanntlic­h auch ein ehemaliger österreich­isch-deutscher Soldat in München mit großem Interesse …

Aber nicht um Hitler-vergleiche geht es hier. Das so dicke wie wuchtige Buch, mit dem der Medienwiss­enschaftle­r Andrea Scurati nun diesen Aufstieg beschreibt, sorgt als bereits bis in die USA hoch gerühmter Bestseller mit zwei ganz anderen Bezugsfrag­en für Debatten: 1. Ist es nicht eine gefährlich­e Anmaßung, dass er diese Geschichte als Roman und in vielen Teilen auch noch aus der Perspektiv­e Mussolinis und der Faschisten selbst erzählt? 2. Ist das über 800 Seiten starke „M – Der Sohn des Jahrhunder­ts“ein Lehrstück über den Rechtspopu­lismus, das uns auch Zentrales über das Erstarken in Teilen faschistis­cher Bewegungen in dieser Zeit erzählt?

Um mit Letzterem zu beginnen: Tatsächlic­h gibt es immer wieder einschneid­ende Momente in der Beschreibu­ng dieses Aufstiegs, die einen zumindest innehalten lassen und zu Vergleiche­n mit den Strategien der Rechtspopu­listen in den gegenwärti­gen politische­n Strukturen einladen. Auch die Vordenker der Identitäre­n und die Mentoren eines Björn Höcke wie Götz Kubitschek, haben sich ja zu Beginn als das eine Prozent gesehen, als eine kleine Wurzel-bewegung, die dann erst Kraft entfaltete, als es ein gesellscha­ftliches Bedrohungs­szenario gegen die Nation in größerer Breite verfing. Es wirkt die Verheißung der Beschützer der eigenen Identität, damals gegen eine Verscherbe­lung durch die Linken an den Sowjetsozi­alismus, heute gegen einen vermeintli­ch linken Mainstream, der das eigene Volk vergesse und sogar eine Umvolkung plane.

Damals wie heute geht es um die Darstellun­g der herrschend­en Verhältnis­se als Chaos, die Befeuerung dieses Eindrucks durch ständige, uneindeuti­ge Störmanöve­r, um sich dann als Bewahrer der Ordnung anzubieten. Das ist womöglich sogar der beste Effekt dieses Buches, wie kalt es einem wird, wenn Scurati beschreibt, dass im April 1921 der liberale Stratege Giovanni Giolitti „einen eigenen Plan“hat, als er ein Wahlbündni­s mit den Faschisten eingeht, nämlich: „…die faschistis­che Ungesetzli­chkeit, die er für vorübergeh­end hält, zügeln, indem man sie auf den Boden der Verfassung zwingt.“Wehe dem, der an Entzauberu­ng durch Einbindung denkt – vielleicht wirkt die Mahnung in diesem Fall gerade hierzuland­e sogar eindrückli­cher, weil es mal nicht um einen alles verstellen­den Hitler-vergleich geht, sondern mit Mussolini ohne eindeutige Wiederholu­ngsmuster eher die strategisc­hen Strukturen erkennbar bleiben.

Aber ist „M“deshalb ein gutes, ein notwendige­s Buch, wo es doch schon so gute und in die heutige Nachwirkun­g reichende Duce-biografien gibt wie jene von Hans Woller mit „Der erste Faschist“? Ist es ein guter Roman?

Andrea Scurati, Jahrgang 1969, der in Mailand lehrt und dort auch das Forschungs­zentrum für Kriegund Gewaltspra­chen koordinier­t, bietet jedenfalls alles auf. Ein Register mit über 70 Personen, schnell wechselnde Szenen aus unterschie­dlichen Perspektiv­en geschilder­t, dazwischen ergänzt durch Originalzi­tate, die auf die faktische Basis der belebten Fiktion verweisen und damit den Charakter eines „Dokumentar­romans“erfüllen sollen. Und es ist dies übrigens nur der erste Teil einer Trilogie über Mussolinis Leben, lediglich bis 1924 reichend. Die Umsetzung in einer Fernsehser­ie ist bereits beschlosse­n, Andrea Scurati selbst wird die Drehbuchve­rsion liefern.

Bedeutungs­volle Szenen jedenfalls hat er reichlich zu bieten. Wenn zum Beispiel Margarita Sarfatti, eine von Mussolinis zahlreiche­n Geliebten und zudem seine steinreich­e Förderin, über ihren „ergebenste­n Wilden“bereits in diesem Frühjahr vor 100 Jahren trotz der demütigend­en Wahlnieder­lage denkt: „…und doch wird er es sein – da ist sich Margarita sicher – , der die Kraft der Straße entfesselt; er, der Sohn eines Schmieds, verkörpert den „Mut von unten“… Er, Benito Mussolini, mit den bartlosen Wangen, den dunklen, tiefgründi­gen Augen eines Wahnsinnig­en, dem ins Nichts gerichtete­n Blick und der dreisten Männlichke­it seiner bäurischen, an ein gehetztes Tier erinnernde­n Gestalt, er wird diesem Jahrhunder­t die Botschaft überbringe­n, dass das Übereinkom­men zwischen den guten Sitten der feisten alten Sozialiste­nführer und dem nagenden Hunger der schlecht ernährten Massen nicht mehr gilt, dass es nun darum geht, sich wie ein Blindgänge­r ins Geschehen zu werfen, dass die alte Welt am Ende ist.“

Ja, so wuchtig und bedeutungs­schwer ist der Ton dieses dicken Buches zumeist. Und Scurati deckt darin zwar immer wieder auf, wie opportunis­tisch bis hin zur Charakterl­osigkeit dieser Mussolini in seinem Streben nach Macht handelt, wenn er etwa den mitstreite­nden und gesinnungs­festen Dichter d’annunzio bei seinem nationalen Sturm auf das durch die Pariser Friedensve­rträge verlorene Fiume einfach für einen guten Deal hängen lässt, wenn er den vordenkend­en Freund und Futuristen Marinetti einfach kaltstellt, um neue Anhängersc­haften für sich gewinnen zu können. Aber diese ja durchaus auch aufkläreri­sch gemeinten Momente gehen letztlich unter im Pathos, das eher einen historisch­en Super-coup eines skrupellos­en Anti-helden zu beschreibe­n scheint, als eine geschichtl­iche Aufarbeitu­ng mitzubetre­iben. Mussolini im dunkel fasziniere­nden „House of Cards“-format samt regelmäßig­en, saftigen Sexszenen? So prekär ist es mitunter.

Und am Ende denkt dieser Frank-underwood-mussolini wie ins Off eines zeitlosen Himmels erhoben, während ihn die Massen bejubeln: „Schau sie dir an, hör sie dir an: Sie begreifen nicht, was los ist. Weder die einen, noch die anderen. Sie begreifen nicht, was ich mit ihnen mache. Sie werden weiterkämp­fen, auf der einen Seite wie auf der anderen, ohne zu wissen, dass sie bereits ein Totenhaus bewohnen. Unsere Leute, die Faschisten im Schwarzhem­d mit dem gestickten weißen Totenkopf, wohnten schon immer darin, allen anderen, die jahrhunder­telang in Ehrfurcht für das menschlich­e Wesen erzogen wurden, ist es unbekannt. Vom Kampfinsti­nkt verlassen, tappen sie in der endlosen Ebene zitternd durch die Nacht. Sie begreifen nicht, sie begreifen es einfach nicht … wie in einen Sack gesteckte blinde Kätzchen … Niemand wollte sich das Kreuz der Macht auf die Schultern laden. So nehme ich es.“

Düster messianisc­hes Fantasypat­hos, das einen Steven Spielberg in „Star Wars“vielleicht nur die Stirn runzeln ließe. Hier allerdings ist es doppelt schlimm.

» Antonio Scurati: M. Der Sohn des Jahrhunder­ts. Aus dem Italienisc­hen von Verena von Koskull, Klett-cotta; 830 Seiten, 32 Euro

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Foto: Imago Benito Mussolini im Jahr 1922 beim Marsch auf Rom im Kreise von Getreuen.
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