Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Menschen sterben wie die Hunde“

Norditalie­n ist ein Epizentrum der tödlichen Viruserkra­nkung. Vor allem das schöne Bergamo am Fuße der Alpen ist betroffen. Dort gibt es keinen Platz für Särge mehr

- Annette Reuther, dpa

Bergamo/mailand Für all die Toten ist seit Tagen kein Platz mehr, das Militär muss die Särge in Krematorie­n anderer Städte schaffen: In Bergamo weiß man sich nicht mehr zu helfen. Hier, in der Gegend um die 120000-Einwohner-stadt bei Mailand, liegt das Epizentrum der Krise des Coronaviru­s-ausbruchs in Europa.

Nicolas Facheris etwa hat seit Tagen nicht mehr geschlafen, er arbeitet rund um die Uhr. Er ist Bestatter in dem Ort Madone in der Provinz Bergamo. „Am Montag hatte ich einen Nervenzusa­mmenbruch“, erzählt er. „Wir sehen kein Ende. Und wir leben in der Angst, dass das Telefon wieder klingelt.“Der Bestatter hat keinerlei Kapazitäte­n mehr. In Bergamo gibt es über 4300 erkannte Infizierte, so viele wie in keiner anderen Provinz in Italien. „Alleine letzte Woche hatten wir in der Stadt Bergamo 300 Tote“, sagt Gloria Zavatta, Präsidenti­n der Hilfsorgan­isation Cesvi.

Es sind dramatisch­e Sätze für eine dramatisch­e Lage: Familien können ihre Lieben im Krankenhau­s nicht besuchen und sie beim Sterben nicht begleiten. Und Bürgermeis­ter Giorgio Gori geht davon aus, dass noch viel mehr Menschen mit dem Virus infiziert sind. Und dass viel mehr an ihm gestorben sind, aber gar nicht im Krankenhau­s behandelt werden konnten. Er hat das kommunale WLAN ausgestell­t, damit sich die Leute an den Plätzen nicht versammeln. Er hat die Bürger ein ums andere Mal zum Zuhauseble­iben aufgerufen. Er hat die Spielautom­aten in den Tabakläden, die noch öffnen dürfen, geschlosse­n – damit die Menschen nicht aus Langeweile dort zocken und sich gegenseiti­g anstecken. Es hat nichts genutzt.

„Die Öfen der Krematorie­n laufen ununterbro­chen, Beerdigung­en werden nicht mehr gefeiert, und wir machen jede halbe Stunde eine Bestattung. Es ist unvorstell­bar“, sagte er der Zeitung La Repubblica. Die Regierung in Rom hat zwar die nahe liegende Provinz Lodi gleich nach Bekanntwer­den der ersten Fälle dort nach dem 21. Februar zur Sperrzone erklärt und das Gebiet abgeriegel­t. Doch Bergamo gehörte nicht zur „Zona Rossa“.

Die Ansteckung­szahlen explodiert­en wenig später förmlich. Die Einwohner wurden erst im Zuge der landesweit­en Sperren am 10. März unter Quarantäne gestellt. Zu spät. Nun mussten Leichen sogar in Kirchen deponiert werden.

Bürgermeis­ter Gori ruft die Verantwort­lichen im Ausland auf, nicht die gleichen Fehler wie in Italien zu machen. Will heißen: Zu lange mit drastische­n Sperrmaßna­hmen zu warten. Der Arzt Stefano Fagiuoli vom Krankenhau­s Papa Giovanni XXIII. in Bergamo richtete eine englische Video-nachricht an die Welt: „Erste Botschaft: Bleibt zu Hause.“Die zweite: Das Krankenhau­s sucht „verzweifel­t“Pfleger und Ärzte. Einige haben sich aus China auf den Weg gemacht. Doch das reicht nicht. Außerdem ruft der Arzt zu Spenden für und von Beatmungsg­eräten und Schutzklei­dung auf. Schon der Regionalpr­äsident der Lombardei, Attilio Fontana, hatte gewarnt, dass es bald keine Möglichkei­ten mehr für die Behandlung aller Patienten gebe.

„Alle sterben wie die Hunde“, erzählt Roberta Zaninoni in einem Videoappel­l. Ihr Vater ist eines von hunderten Opfern in der Provinz Bergamo. „Er war nicht alt. Und er war nicht krank.“Auch jüngere Menschen würden sterben. Sie habe das alles anfangs auch unterschät­zt, sagt sie: Ironie und Witze seien nicht angebracht. „Hier hört man nur noch Sirenen der Ambulanzen und Totengeläu­t.“

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Fotos: Luca Bruno (2), Claudio Furlan (2), dpa Italien im Ausnahmezu­stand: patrouilli­erende Polizei in Mailand, Notversorg­ung im Zelt in Brescia und Bestatter in Bergamo.
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