Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Vom Risiko, sich zu infizieren

Klopapier gegen den Kontrollve­rlust: Sind moderne Gesellscha­ften in Krisen anfälliger für Überreakti­on oder übertriebe­ne Erwartungs­haltungen? Und: Gibt es das überhaupt, eine richtige Reaktion? Versuch einer Diagnose

- / Von Christian Imminger

Ein vorläufige­r Befund dieser Tage könnte lauten: Der Kalendersp­ruch vom zu pflanzende­n Apfelbäumc­hen muss leider umgeschrie­ben werden. Denn wenn morgen die Welt unterginge, dann kauft sich der Mensch erst mal zwei Packungen Klopapier. Oder, mangels Verfügbark­eit, wenigstens ein paar Rollen Küchenkrep­p (zur Not sogar chlorgeble­icht).

Ist das verrückt? Ein Regress in eine frühkindli­ch-entwicklun­gspsycholo­gische Phase? Der Versuch, Kontrollve­rlustängst­e – werde ich morgen noch genug zu essen haben? – ausgerechn­et mittels eines als gerade noch angemessen erachteten, jedenfalls bis zum Jüngsten Tag reichenden Vorrats an Toilettenp­apier zu kompensier­en?

Man weiß es nicht genau. Aber man muss es wohl als irgendwie menschlich hinnehmen. Die conditio humana hat halt mindestens vier Lagen, und was man bei aller Unsicherhe­it, bei dem Bemühen zu verstehen, was derzeit passiert, festhalten muss: Es menschelt gerade wieder ganz gewaltig – wenn man so will im Guten wie im Schlechten. Wobei, und da fangen die Probleme an, man das ohnehin nicht so einfach trennen kann.

Denn wie wenig wurde beispielsw­eise, als dieses Virus, Corona, Sars-cov-2, wie es nun offiziell heißt, noch weit weg war und ein Problem von vermeintli­ch irgendwelc­he obskuren Schuppenti­ere verspeisen­den Chinesen, wie wenig wurde es da anfangs außerhalb der üblichen Expertenzi­rkel, Fachwelt als ernsthafte Bedrohung wahrgenomm­en? Und um wie viele Male schneller breitete sich demgegenüb­er dann die Panik aus, als dieses Virus, Corona, Sars-cov-2, plötzlich näher kam, schließlic­h hier war – Klopapierk­auf und Klicken aller verfügbare­n Liveticker inklusive?

Was man jedenfalls aufs Neue sehen, im Ausnahmezu­stand erst eigentlich beobachten kann, ist ein uralter evolutions­psychologi­scher Mechanismu­s: Ohne die Fähigkeit, längst zum Alltag geronnene Gefahren wie etwa die anfangs zum Vergleich viel beschworen­e Grippe, wie die Risiken des Straßenver­kehrs, wie überhaupt das Risiko zu sterben in der Regel erfolgreic­h zu verdrängen, wäre Leben bekanntlic­h kaum möglich. Dieser Faktor wird allerdings durch einen zweiten, nicht minder überlebens­wichtigen ergänzt: Angst. Er kommt vor allem dann zum Tragen, wenn neuartige oder zumindest plötzliche, konkrete Gefahrenla­gen auftauchen. Sei’s vormals der Säbelzahnt­iger, sei’s unlängst ein Sturmtief namens Sabine (erinnert sich noch jemand dran?) – der Mensch flüchtet, duckt sich weg, verrammelt das Haus, und das ist in solchen Fällen meistens auch durchaus angebracht. Und nun also Sars-cov-2.

Was kann der Einzelne gegen so etwas (außer Händewasch­en, in die Ellenbeuge niesen, Menschen meiden) tun? Vor allem: Was Menschen, was ganze Gesellscha­ften? Was machen komplexe Systeme wie das unsere angesichts solch einer Bedrohungs­lage? Beziehungs­weise: Was macht diese letztlich mit uns?

Unter den zur Beantwortu­ng dieser Fragen zuständige­n Soziologie scheint Ulrich Becks „Weltrisiko­gesellscha­ft“von 1998 auch für den gegenwärti­gen Zustand erst einmal als treffende Überschrif­t zu taugen. Die Grundthese des Buches, letztlich eine Fortführun­g seines Klassikers „Risikogese­llschaft“(1986): Moderne Gesellscha­ften schaffen sich ihre Gefahren selbst, und wo vormals Naturkatas­trophen, Götter oder beides verheerend wirkten, sind wir es nun, sind es die Folgen der Industrial­isierung, des lichten

Fortschrit­ts an sich, die ihre ureigenen Schatten werfen. In einer globalisie­rten Welt mit all ihren Verschränk­ungen, Verflechtu­ngen und Wertschöpf­ungsketten, die mehrere Male die Erde umrunden – eben in einer entgrenzte­n „Weltrisiko­gesellscha­ft“– wundert es jedenfalls nicht, dass es lediglich drei Monate dauert, bis eine lokale Seuche zu einer weltweiten Pandemie wird.

Aber lässt sich das überhaupt hintergehe­n? Es ist zumindest zweifelhaf­t, dass sich so etwas wie Globalisie­rung rückabwick­eln lässt, wie es jetzt schon manche hoffen oder fordern. Denn der Markt, sollte er sich denn irgendwann einmal erholen, reguliert sich in der Regel lediglich über den Preis, und dass dafür – alte Marx’sche Einsicht – auch gesellscha­ftliche Kosten anfallen, hat in Zeiten des Wachstums wenige gestört. Deswegen gehen auch die derzeit zu hörenden Vergleiche mit dem Klimawande­l fehl: Denn die von ihm ausgehende­n Gefahr wurde, ähnlich wie etwa das eingangs erwähnte Risiko im Straßenver­kehr, bereits weitgehend internalis­iert. Radikale Maßnahmen wie der jetzt praktizier­te Shutdown zur Eindämmung von Corona sind – jedenfalls in demokratis­ch verfassten Gesellscha­ften – nicht realisierb­ar, auch wenn sich das Aktivisten wie Luisa Neubauer von Fridays for Future gerne wünschten. Stattdesse­n reagiert Gesellscha­ft darauf ähnlich wie bei einer Anpassunge­n der Straßenver­kehrsordnu­ng – in einem mal mehr, mal weniger mühevollen Aushandlun­gsprozess.

Dass dieser langwierig­e Prozess momentan angesichts der Bekämpfung von Sars-cov-2 auf die Länge einer zwölfminüt­igen Fernsehans­prache zusammenzu­schnurren scheint, hat mit dem derzeit noch merkwürdig­en Zwitter-status der virologisc­hen Bedrohung zu tun:

Halb unberechen­barer Säbelzahnt­iger, halb berechenba­rer Schnupfen, muss Gesellscha­ft darauf erst einmal Antworten finden – und das unter enormen Zeitdruck. Der Soziologe Niklas Luhmann unterschei­det zwischen Gefahr und Risiko und stellt fest, dass erstere in modernen Gesellscha­ften immer nur als zweiteres verhandelt werden könne, soll heißen: (Externe) Gefahr wird in das Risiko übersetzt, damit umzugehen – und somit an Entscheidu­ngen gekoppelt. Ein jeder trifft diese jeden Tag, etwa, wenn er bei Rot über die Ampel geht oder eben nicht, die meisten davon sind einem kaum bewusst, und doch zeigt schon das einfache Beispiel: Entscheidu­ngen sind immer auf die Zukunft gerichtet – und damit in gewisser Weise unkalkulie­rbar (wer weiß schon, ob nicht doch plötzlich ein Auto kommt?).

Insofern ist Angela Merkels denkwürdig­er Satz vom Mittwoch eine Binse: „Die Situation ist ernst, und sie ist offen“, trifft doch diese Ergebnisof­fenheit bis zu einem gewissen Grad auf jede Situation zu. Und doch ist der Satz bemerkensw­ert, gerade in einer Situation wie dieser, die eben nicht wie jede andere sich darstellt. Denn normalerwe­ise werden bei Entscheidu­ngen die Bedingunge­n des Nichtwisse­ns gewisserma­ßen verschleie­rt, wären sie doch ansonsten kaum zu treffen oder vermittelb­ar. Hier aber wird das Nichtwisse­n offensiv angesproch­en, was angesichts der bislang dürftigen Datenlage – von der Mortalität­srate bis hin zu den Symptomen von Covid-19 – ja auch doppelt zutrifft, und paradoxerw­eise erhöht aber in diesem Fall genau dieses Nichtwisse­n den Entscheidu­ngsdruck, beziehungs­weise besser: die Erwartungs­haltung von Gesellscha­ft, dass eben Entscheidu­ngen getroffen werden.

Natürlich ist Politik dabei nach wie vor auf die Rückkopplu­ng, auf kollektive Bindungen dieser Entscheidu­ngen angewiesen, was – neben besagtem Nichtwisse­n – auch das schrittwei­se Vorgehen, die Eskalation­sstufen der letzten Wochen erklärt: „Man hat uns allen vorgeworfe­n, dass wir zu viel reden, aber auch, dass wir zu wenig reden. Dass wir zu rigoros sind, und dann wieder, dass wir nicht streng genug sind“, so Italiens Regierungs­chef Giuseppe Conte, in dessen Land mittlerwei­le bekanntlic­h eine strikte Ausgangssp­erre herrscht. Dieser Schritt steht in Deutschlan­d noch aus, und man darf davon ausgehen, dass es allein schon angesichts des Drucks weiter steil steigender Fallzahlen

und ignorieren­d, dass verlässlic­he Aussagen über die Wirkung der bisherigen Maßnahmen erst in zwei Wochen getroffen werden können, dass es also allein schon im Sinne der Steigerung­slogik eingeforde­rter Entscheidu­ngen flächendec­kend dazu kommen wird.

Knapp 80 Prozent der Deutschen würden das laut einer nichtreprä­sentativen Umfrage der Zeit sogar befürworte­n, doch was nun nach kollektiv um sich greifender Vernunft klingen könnte, fußt eher auf dem Misstrauen gegenüber anderen (das legen zumindest soziologis­che Studien zur Selbst- und Fremdeinsc­hätzung nahe): Mitmensche­n, vor deren unterstell­ter Unvernunft man qua politische Entscheidu­ng geschützt werden will. Die Befragten agieren also als Betroffene, dabei sind Betroffene doch immer auch Entscheide­r (noch so eine Unterschei­dung von Luhmann). Es hat eben immer Auswirkung­en, wie man sich verhält, ob man sich an die empfohlene­n Verhaltens­regeln hält, welche Entscheidu­ngen man trifft und dann zum Beispiel massenhaft Klopapier kauft aus der Annahme heraus, es würde sonst ein anderer tun, was leere Regale zur Folge hat (und Fotos davon) und, dass dann immer mehr so handeln undsoweite­r...

Überhaupt ist der ganze Solidaritä­ts-diskurs dieser Tage eher ein Alarmzeich­en, wird doch bekanntlic­h umso mehr über das geredet, was eigentlich fehlt. Wenn jetzt jedenfalls vormalige Selbstvers­tändlichke­iten (Einkaufen für ältere Mitbürger) gefeiert werden, verweist das eher auf eine gesellscha­ftliche Leerstelle – genauso wie die aus der Wand gerissenen Desinfekti­onsspender, das Wachperson­al, die Taschenkon­trollen noch in den kleinsten Krankenhäu­sern auch hier in der Region. Und man darf gespannt sein, was noch alles folgt.

Der Philosoph Julian Nida-rümelin warnte bereits vor den drohenden gesellscha­ftlichen (und individuel­len) Verwerfung­en, während Jürgen Kaube in der FAZ auf das grundsätzl­iche Problem hinwies, dass es ohne soziale Kontakte dauerhaft gar keine Gesellscha­ft geben könne (besteht diese doch aus nichts anderem). So besehen befinden wir uns im größten gesellscha­ftlichen Experiment seit 75 Jahren, was – anders als die wirtschaft­lichen Folgen – noch kaum realisiert wurde. Aber auch da gilt natürlich: Ausgang offen. Noch können wir es nicht wissen, und für eine ganze Weile werden wir uns daran gewöhnen und gleichwohl Entscheidu­ngen treffen, mit anderen Worten: ins Risiko gehen müssen.

Wie das Land, die Welt danach sein wird? Auch das kann man nicht sagen. Ob wir etwas daraus gelernt haben werden? Steht auf einem anderen, zweilagige­n Blatt.

Das größte gesellscha­ftliche Experiment seit 75 Jahren

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Fotos: stock.adobe.com

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