Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Als ein Virus Napoleon besiegte“
Der Mensch bestimmt seine Geschichte. Oder? Wie immens Wetterereignisse, der Ausbruch eines Vulkans oder Mikroorganismen den Lauf der Geschehnisse verändern und mächtige Reiche aufstreben oder untergehen lassen können, beschreibt der Wissenschaftsredakteur Sebastian Jutzi in seinem Buch „Als ein Virus Napoleon besiegte“.
In der Vergangenheit des Menschen habe es immer wieder natürliche Ereignisse gegeben, die den Gang der Zeitläufe entscheidend beeinflussten und ohne die wir in einer anderen Gegenwart leben würden. „Wohl jeder, der sich für Geschichte interessiert, könnte gleich mehrere Beispiele nennen, bei denen das Wetter den Ausgang einer Schlacht oder gar eines Kriegs entscheidend beeinflusst hat“, so Jutzi.
Er verdeutlicht an mehr als 50 historischen Beispielen, welchen Einfluss die Natur auf den Lauf der Menschheitsgeschichte nahm. Erklärt wird etwa, warum gerade im Yellowstone-nationalpark eine so einmalige Natur unberührt überdauern konnte, auf welche Weise eine Mondfinsternis in der Nacht des 27. August 413 vor Christus Anteil am Scheitern des athenischen Heerführers Nikias bei der Belagerung von Syrakus hatte – das letztlich den Anfang vom Ende der athenischen Dominanz bedeutet habe.
Der Autor folgt dem Heerführer Hannibal mit dem karthagischen Heer und einer Reihe von Kampfelefanten im Jahr 218 vor Christus über die Alpen. Er beschreibt, wie das antike Pompeji im Jahr 79 nach Christus von einer blühenden Metropole zum Aschegrab von etwa 2000 seiner Einwohner wurde. Erklärt wird auch, was es mit sogenannten Blutwundern auf sich hat, die aus verschiedenen Teilen Europas überliefert seien. „Bis heute stoßen Gläubige auf Brot oder Hostien mit blutroten Flecken.“Die Ursache der vermeintlichen Wunder sei profan: Häufig werde die Färbung von einem Schimmelpilz namens Neurospora crassa verursacht, meist aber vom Bakterium Serratia marcescens. „Der Einzeller enthält den leuchtend roten Farbstoff Prodigiosin.“Die Zellhaufen, die das Bakterium bilde, erinnerten deshalb an Blutstropfen.
Jutzi beschreibt die Auswirkungen der Pest, die allein bei einem Seuchenzug von 1347 bis 1353 um die 25 Millionen Tote gefordert habe – ein Drittel der Bevölkerung Europas. „Vergleichbares hatte es zuvor nur während der Justinianischen Pest im sechsten Jahrhundert gegeben – und sollte sich bis heute nicht mehr wiederholen.“Großes Elend und schreckliche Kriege habe die sogenannte Kleine Eiszeit – eine Periode relativ kühlen Klimas von Anfang des 15. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert hinein. „Hunger und Seuchen grassierten und rafften Geschwächte dahin.“Wahrscheinlichste
Ursache der Abkühlung sei nach heutigem Stand Vulkanismus. „Wenn die Feuerberge vermehrt Asche, Staub und Gase hoch in die Atmosphäre schleudern, dann kann es auf der Erde kalt werden.“
Bereits aus der Zeit vor dem ersten Höhepunkt der Kleinen Eiszeit seien Hexenverbrennungen bekannt, schreibt Jutzi. „Weiber“, die verheerenden Hagel oder Sturm gebracht haben sollten, seien verbrannt worden. Die massenhafte Jagd auf Frauen, Männer und sogar Kinder, die vermeintlich Zauberei betrieben und mit dem Teufel im Bunde waren, habe dann so richtig begonnen, als sich im Zuge der Kleinen Eiszeit die Extremwetter häuften. Mit wie vielen Opfern?
Jutzi: „Seriöse Schätzungen schwanken zwischen einer Untergrenze von 30000 bis zu maximal 100000 Toten.“Etwa zwei Drittel Frauen. Jutzi: Angesichts der aktuellen politischen, sozioökonomischen und ökologischen Entwicklungen weltweit und des sich abzeichnenden Klimawandels sei die historisch gesehen noch gar nicht so lange zurückliegende Hexenverfolgung eine Mahnung, dass die menschliche Natur vor allem in Krisenzeiten für Hirngespinste anfällig sei, gerade wenn Fanatiker sie darin bestärkten.
Als ein weiterer die Geschichte beeinflussender Erreger wird neben dem Pest-bakterium das Virus genannt, das Gelbfieber verursacht. Im Frühjahr 1802 breitete es sich demnach zum Beispiel unter französischen Soldaten in der Kolonie Saint-domingue aus – was letztlich zur Umwandlung der Kolonie in den Staat Haiti beitrug, den ersten
Gelbfieber hier, ein Pilz da – und die Welt änderte sich
unabhängigen Staat in Lateinamerika und den ersten, der durch ehemalige Sklaven geformt wurde. Denn die von Napoleon als Erster Konsul Frankreichs geführten Truppen waren am 18. November 1803 vernichtend geschlagen worden – in Vertières, 7000 Kilometer entfernt von der Heimat, geschwächt von der Gelbfieberseuche, chancenlos gegen das Virus.
Erläutert wird auch, auf welchem Weg der Pilz Phytophthora infestans die Us-präsidentschaft beeinflusste und wie sich ein Sonnensturm auf die heutige Kommunikationsinfrastruktur auswirken würde. Klar müsse der Menschheit jedenfalls eines sein, so Jutzis Fazit: „Langfristig bestimmt die Natur die Geschichte und jeder, der das abstreitet, darf wahlweise als Narr oder Hasardeur bezeichnet werden.“Annett Stein » Sebastian Jutzi: Als ein Virus Napoleon besiegte. Wie Natur Geschichte macht. Hirzel, 238 S., 19,80 ¤