Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

…Bob Dylan, der nach Jahren etwas Neues hervorzaub­ert

Der erste Dylan-song seit vielen Jahren wirft nicht wenige Fragen auf. Hier sind ein paar mögliche Antworten

- VON FRANZ NEUHÄUSER

War das Absicht, ausgerechn­et jetzt mitten in der Corona-krise nach acht Jahren ohne neue eigene Songs wieder etwas zu veröffentl­ichen? Oder bloßer Zufall? Darüber müssen Dylanologe­n gerade rätseln. Noch viel schwierige­r ist für sie, worum es in dem 17-Minüter mit dem Titel „Murder Most Foul“geht. Um das Attentat auf John F. Kennedy oder doch viel mehr um die Rockmusikg­eschichte, die Dylan da mal mehr mal weniger auffällig zitiert. Mehr über dieses Rätsel lesen Sie heute im Feuilleton.

Das Raten ist für die Eingeweiht­en ein musikalisc­her Spaß. Mit bitterem Ernst jedoch müssen die Ungarn sich gerade fragen, was es zu bedeuten hat, dass das Parlament sich selbst mit einer Zwei-drittel-mehrheit in eine Pause geschickt hat. Die Reportage dazu finden Sie auf

Niemand kann behaupten, das alles wäre gänzlich ohne Erklärung gekommen. „Das ist ein unveröffen­tlichter Song, welchen wir vor einiger Zeit aufgenomme­n haben, den ihr möglicherw­eise interessan­t findet.“So hat Bob Dylan vergangene Woche diesen Koloss namens „Murder Most Foul“(in etwa: ein entsetzlic­her Mord) angekündig­t.

Ein „Song“, fast 17 Minuten lang, fast komplett mit Text gefüllt, ohne Strophen, ohne Refrain, ohne Überleitun­g, mehr gesprochen, denn gesungen, Lichtjahre entfernt vom Pop und Rock dieser Tage. Ein Hörspiel, unterlegt mit Piano, Streichern, hauchzarte­m Schlagzeug, gefangen in einem Fast-endlos-loop.

Im Internet platziert vergangene­n Freitag, schwuppdiw­upp. Das erste Dylan-original seit acht Jahren. Zuletzt hatte es dem Altmeister gefallen, die Welt auf mehreren CDS mit seinen Deutungen von Klassikern aus dem Great American Songbook zu beglücken. Werke, die einst Sinatra (besser) interpreti­ert hatte.

Und jetzt wieder was ganz anderes. Womit Dylan aufs Neue beweist, dass der Wechsel die einzige Konstante in seinem Schaffen darstellt. Die Dylanologe­n sahen sich zur Schnitzelj­agd aufgerufen. „Murder“wirft viele Fragen auf. Die erste, vielleicht banalste: Wann wurde dieses ebenso federleich­te wie wuchtige Stück eingespiel­t? Neu ist die Neuveröffe­ntlichung nicht. Aber wann war „vor einiger Zeit“? Eine Theorie: „Murder“entstand 2013, zum 50. Jahrestag des Kennedy-attentats.

Aber was hat der Meister da im Sinn gehabt? Der „entsetzlic­he Mord“ist das Attentat auf John F. Kennedy im November 1963, das Dylan konkret und drastisch beschreibt. Aber dann driftet der Song davon, mäandert (ziellos?) dahin, vor allem durch die populäre Musikgesch­ichte. Im Internet sind wenige Stunden nach der Veröffentl­ichung die ersten Text-transkript­e und Übersetzun­gen aufgetauch­t. Auch Listen mit Personen, Songs und Filmen, die Dylan erwähnt. Bei Spotify findet sich bereits eine Playlist mit über 70 Titeln, die in „Murder“länger oder kürzer, deutlicher oder versteckte­r, gestreift werden. Pop, Rock, Jazz, Folk, Klassik, Filme – alles dabei.

Wie wirkt das Sammelsuri­um auf den Hörer? Illusionsl­os gesagt: Die jüngere Generation dürfte „Murder“langweilen. Denn: Da passiert ja musikalisc­h nix, das sagt mir inhaltlich wenig bis nichts. Der ältere Hörer dagegen könnte Dylans fiebrige Assoziatio­nskette als spannend empfinden. Es finden sich schließlic­h genügend Überschnei­dungen mit seinem eigenen Erleben. Wenn Dylan flehentlic­h nach dem legendären Discjockey Wolfman Jack ruft, dann weckt das natürlich Erinnerung­en an frühe Nächte vor dem Radio – den Sendersuch­lauf auf AFN gedreht.

Das überborden­de „Name Dropping“lässt wohlige Nostalgie vermuten. Nicht bei Dylan. Er mischt immer wieder Szenen rund um den Kennedy-mord unter seine Aufzählung. Ein Früher-war-alles-bessergefü­hl wird damit schnell erstickt. Das Attentat ist für ihn der Anfang des Übels. „Am Tag, als sie ihn umgebracht haben, sagte jemand zu mir: Sohn, die Zeit des Antichrist­en hat gerade erst begonnen“, heißt es an einer Stelle. „Ein langsamer Zerfall hat begonnen. Wir sind 36 Stunden über den Jüngsten Tag hinaus“, an einer anderen.

Was will uns Bob Dylan also sagen? Die amerikanis­che Zeitschrif­t Rolling Stone glaubt, Dylan wolle aufzeigen, dass Musik in traumatisc­hen Zeiten Trost spenden kann. Möglich. Man kann das leicht gerappte „Murder“aber auch auf der dunklen Seite als „Niedergang­sgedicht“(Süddeutsch­e Zeitung) oder als „Playlist für das Ende Amerikas“(Die Zeit) verorten. „Murder“ist vor Corona entstanden. Kein billiger Schnellsch­uss zur Krise also. Aber natürlich ist klar: Der Meister hat beschlosse­n, es sei genau jetzt an der Zeit, das düstere Epos zugänglich zu machen. Selbstvers­tändlich ist Corona auch an dem bald 79-Jährigen nicht vorbei gegangen. In Wolkenkuck­ucksheim lebt er nicht. Seine für das Frühjahr geplanten Konzerte in Japan mussten wegen Corona gestrichen werden. Für den Sommer in den USA stehen noch Termine im Kalender des Rastlosen. Aber wie lange noch? Bob Dylan ist sich bewusst, wie labil die Lage in der gesamten Welt geworden ist.

Und so endet seine karge Erklärung zu „Murder“mit den Worten: „Passen Sie auf sich auf, bleiben Sie wachsam und möge Gott mit Ihnen sein.“

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Foto: yonhap, dpa
 ?? Foto: Domenech Castello, dpa ?? Eines der wenigen Bilder von Bob Dylan aus dem vergangene­n Jahrzehnt: Der Ussänger 2012 bei einem Auftritt in Spanien.
Foto: Domenech Castello, dpa Eines der wenigen Bilder von Bob Dylan aus dem vergangene­n Jahrzehnt: Der Ussänger 2012 bei einem Auftritt in Spanien.

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