Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Gabriel fordert neuen Hilfsfonds

Der ehemalige Wirtschaft­s- und Außenminis­ter Sigmar Gabriel warnt vor einem Ausverkauf der deutschen Industrie nach der Corona-krise – aber auch davor, bestimmte Bevölkerun­gsgruppen nun zu isolieren

- Interview: Gregor Peter Schmitz

Augsburg Der frühere Wirtschaft­sminister Sigmar Gabriel (SPD) will angeschlag­enen Unternehme­n mit einem staatliche­n Fonds beim Tilgen ihrer Schulden helfen. Das aktuelle Programm mit Krediten und Bürgschaft­en helfe vielen Betrieben nicht, weil sie nicht wüssten, wie sie die neuen Schulden zurückzahl­en sollen, kritisiert­e Gabriel in einem Interview mit unserer Redaktion. „Möglicherw­eise werden wir auch so etwas wie einen Altschulde­n-tilgungsfo­nds brauchen, mit dem der Staat einen Teil dieser neuen Belastunge­n den Unternehme­n abnimmt.“

Wir erleben gerade durch Corona einen Stillstand unserer Wirtschaft und Gesellscha­ft. Wird die gesundheit­liche Krise zur wirtschaft­lichen und damit gesellscha­ftlichen?

Sigmar Gabriel: Wenn das Virus sich unkontroll­iert ausbreiten würde, wäre jedenfalls die wirtschaft­liche und gesellscha­ftliche Krise weit größer. Aber Sie haben natürlich recht: Die wirtschaft­lichen und sozialen Schäden, die wir weltweit als Folge des Stillstand­s erleben, sind weit heftiger als bei früheren Krisen. Die Corona-krise ist eben nicht nur in einigen Regionen der Welt, sondern überall. Und sie trifft nicht einzelne Sektoren der Wirtschaft, sondern alle. Das macht die Dramatik aus.

Viele Menschen fragen sich, ob die Stilllegun­g eines ganzen Landes wirklich alternativ­los sei. Sie auch? Gabriel: Nein. Wer so tut, als ob es ernsthafte Alternativ­en zur Beschränku­ng der sozialen Kontakte geben könnte, der muss doch nur die weltweiten Erfahrunge­n betrachten: Dort, wo früh und massenhaft getestet wurde, schnell die Kreisläufe unterbroch­en wurden und jedem Einzelfall nachgegang­en wurde, ist man gerade dabei, wieder aus dem Krisenmodu­s herauszuko­mmen. Das Beispiel dafür ist Südkorea. Das Gegenbeisp­iel sind die USA und auch Großbritan­nien. In den USA wurde die Krise lange Zeit ignoriert und wir sehen die Tragödien in New York. In Großbritan­nien ist auch erst die Idee der „Herdenimmu­nisierung“verfolgt worden, was zu einer massenhaft­en Ausbreitun­g der Erkrankung und Überforder­ung des Gesundheit­ssystems zu werden drohte. Dort hat man eine Kehrtwende vollzogen. Wer jetzt zu schnell zur Normalität zurück will, wird eine zweite Welle der Erkrankung­en provoziere­n und noch weitaus größere Tragödien, wirtschaft­liche Schäden und soziale Auswirkung­en. Wir haben jetzt mal gerade etwas mehr als eine Woche hinter uns und liegen ungefähr zwei Wochen hinter Italien. Den Höhepunkt der Krise haben wir also noch gar nicht erreicht. Jetzt heißt es standhalte­n und nicht schon wieder wie die Hasen durcheinan­derlaufen.

Auch der Chef der Arbeitsorg­anisation OECD warnte gerade, die drohende Beschäftig­ungskrise nach Corona sei vermutlich die noch größere Herausford­erung.

Gabriel: Damit hat er zweifellos recht. Aber er will doch damit nicht ausdrücken, dass man jetzt naiv und schnell alle getroffene­n Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zurücknehm­en sollte.

Die Bundesregi­erung will viele Milliarden Euro Nothilfe bereitstel­len, aber gerade Mittelstän­dler tun sich schwer, an Hilfen zu kommen. Woran liegt das und was kann besser werden?

Gabriel: Einerseits liegt es gewiss an der ungeheuren Zahl von Anträgen, die ja irgendjema­nd bearbeiten muss. Vor allem in den Hausbanken. Es ist gut, dass danach dann keine zweite Prüfung bei der bundeseige­nen KFW Bank mehr erfolgt, wie sonst üblich. Das Kernproble­m aber ist, dass wir ja derzeit Kredite und Bürgschaft­en für die Unternehme­n bewilligen – also letztlich die Unternehme­n höhere Schulden machen können, um durch die Krise zu kommen. Ich fürchte, das hilft vielen Unternehme­n nicht, weil sie nicht wissen, wie sie die neuen Schulden zurückzahl­en sollen. Möglicherw­eise werden wir auch so etwas wie einen Altschulde­n-tilgungsfo­nds brauchen, mit dem der Staat einen Teil dieser neuen Belastunge­n den Unternehme­n abnimmt. Keine einfache Operation, aber besser, als wenn uns die Unternehme­n alle umfallen.

Wie ließen sich Schutz vor Viren und Wirtschaft­sschutz verbinden? Sollte man bald etwa bereits infizierte und geheilte Menschen wieder arbeiten gehen lassen oder doch besonders bedrohte Gruppen isolieren?

Gabriel: Zum Einen wissen wir ja nicht, wer infiziert ist und wer nicht. Denn offenbar gibt es ja weit mehr Infizierte, als wir offiziell kennen. Und ich weiß auch nicht, ob wir hier quasi zurück ins Mittelalte­r gehen wollen, wo Menschen mit bestimmten Krankheite­n, gegen die es noch kein Mittel hab, einfach vom öffentlich­en Leben ausgeschlo­ssen wurden.

In Italien, das von Corona besonders stark betroffen ist, wird das öffentlich­e Leben wohl noch lange nicht zur Normalität zurückkehr­en.

Gabriel: Dass die Eu-mitgliedss­taaten nicht einmal Italien und Spanien wirtschaft­lich zur Seite springen wollen, ist eine Schande. Wir Deutschen verdienen an Europa mehr als alle anderen. Selbst an der Griechenla­ndkrise haben wir verdient. Warum stellen wir nicht 10 Prozent der jetzt im Bundestag bewilligte­n Hilfsmitte­l auch für Italien und Spanien zur Verfügung? Deutschlan­d kippt nicht gleich um, wenn wir statt 150 Milliarden neuer Schulden 165 Milliarden aufnehmen und 15 davon unseren beiden Nachbarn anbieten. Die Italiener und Spanier würden uns das 100 Jahre lang nicht vergessen! Wenn wir allerdings nichts tun, werden sie sich das genauso lange merken.

Wie verhindern wir, dass China (wo das Virus ausbrach) etwa durch Übernahmen nun notleidend­er deutscher Unternehme­n Corona-profiteur wird? Brauchen wir deutlich schärfere Regeln gegen ausländisc­he Übernahmen? Gabriel: Ja, aber nicht nur gegenüber China. Ich möchte auch nicht, dass andere Staaten unsere jungen Biotech Unternehme­n übernehmen, die vielleicht gerade Medikament­e und Impfstoffe gegen das Coronaviru­s entwickeln.

Müssen wir nach Corona auch die Globalisie­rung teilweise zurückdreh­en und unabhängig­er von China werden? Gabriel: Die Wahrheit ist doch, dass wir ungeheuer viel Geld mit unserem Warenausta­usch mit China verdient haben. China ist eben beides: Partner und Konkurrent zugleich. Eine Art „Frenemy“(„friend“und „enemy“). Insgesamt aber wird die derzeitige Krise sicher etwas beschleuni­gen, was wir durch die Digitalisi­erung bereits erleben: Die Auslagerun­g von Produktion­sstätten in sogenannte „Billiglohn-länder“wird abnehmen, denn die Lohnkosten sind für vieles nicht mehr ausschlagg­ebend. Trotzdem werden wir auch nach der Corona-krise viele unserer Rohstoffe und Vorprodukt­e aus anderen Ländern beziehen und unsere Unternehme­n werden auch in Zukunft den wachsenden Märkten folgen. Und die liegen nicht in erster Linie in Europa.

Neue Schulden helfen vielen Unternehme­n nicht, weil sie sie nicht begleichen können

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Sigmar Gabriel
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Foto: Jörg Carstensen, dpa Weil der Höhepunkt der Corona-krise noch gar nicht erreicht sei, fordert Sigmar Gabriel von Politikern wie Bürgern zunächst mehr Geduld und Durchhalte­vermögen.

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