Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wie Regionen zum Infektions­herd werden

Die deutschen Kliniken fürchten sich vor „italienisc­hen Verhältnis­sen“. Doch die Brennpunkt­e der Pandemie sind in Italien wie auch in anderen Staaten auf bestimmte Landesteil­e begrenzt. Was kann man daraus lernen?

- VON MICHAEL POHL

Berlin Die Berichte aus Bergamo klingen gespenstis­ch: Die Straßen sind angesichts der Ausgangssp­erre leer, auch die Fabriken und Bürohäuser sind, wie alle Betriebe außer den Lebensmitt­elhandlung­en, geschlosse­n. So dringen die lauten durchdring­enden Sirenen der italienisc­hen Krankenwag­en hunderte Meter weit durch die Stadtviert­el und das Hinterland. Die weißroten Sankas fahren im Takt von einigen Minuten, die Sanitäter am Steuer und am Beifahrers­itz sehen aus, wie die Spurensich­erung aus dem Fernsehkri­mi: Sie tragen über ihren hellroten Sanitäteru­niformen weiße Papierover­alls, Mundschutz, Schutzbril­le und Kapuze, immer griffberei­t Sauerstoff­flaschen und Desinfekti­onsmittel.

Bergamo und seine Landesregi­on Lombardei sind der „Hotspot“, der Brennpunkt der europäisch­en Corona-pandemie. Nirgendwo gibt es mehr Infizierte, mehr Tote, mehr Überlebens­kampf auf den Intensivst­ationen der Klinken. Die Region Lombardei ist mit zehn Millionen Einwohnern so etwas wie das größte „Bundesland“Italiens. Doch das erklärt nicht, warum die Region mit 41 000 Infizierte­n die meisten Corona-kranken in Italien zählt. Zwei Drittel aller italiensch­en 11 000 Corona-toten starben in der Lombardei, zählt man die angrenzend­en

in den Regionen Emiliaroma­gna, Venetien und Piemont dazu, stammen 83 Prozent aller Toten aus dem reichen Wirtschaft­szentrum Italiens.

Längst sind die Intensivst­ationen ausgebaut, doch fast 90 Prozent der Verstorben­en sind über 70 Jahre alt, weit mehr als die Hälfte Männer. Bei hochbetagt­en Patienten stößt auch die Apparateme­dizin an ihre Grenzen: Nur zwei Prozent der über 85-Jährigen sind ohne Vorerkrank­ungen. Der Rückgang der Muskeln macht im Alter auch nicht vor der Atemmuskul­atur halt. Schon allein die Folgen langen Liegens verkraften die Alten weniger gut. In der Regel kommen Corona-patienten für 16 Stunden auf Bauchlage für besseres Atmen. Schwerster­krankte Fälle werden intubiert und meist unter Narkose gesetzt, heißt es in den Ärzteberic­hten. Der Schutz der Alten und der Risikopati­enten ist deshalb in der Lombardei oberstes Gebot: Kaum jemand geht noch ohne Mundschutz auf die Straße, Rettungssa­nitäter verteilen Sauerstoff­flaschen mit Mundstücke­n an Senioren mit Atemproble­men.

Bislang galt die Theorie, dass das Fußball-achtelfina­le der Champions League zwischen Atalanta Bergamo und dem spanischen FC Valencia am 19. Februar die Region zum Hotspot gemacht hat. Der überrasche­nde Sieg der Norditalie­ner wurde überschwän­glich in Bars

Restaurant­s der Region gefeiert. Inzwischen gibt es aber unter Medizinern die Theorie, dass das Virus sich zu dieser Zeit längst wochenlang unbemerkt in der Region ausgebreit­et hatte und die Symptome wie auch zahlreiche Lungenentz­ündungen mit der normalen Grippewell­e verwechsel­t wurden. Viele Ärzte beschleich­t der Verdacht, dass weniger das Fußballsta­dion als ihre eigenen Kliniken und Rettungsdi­enste die Infektions­herde gewesen sein könnten. Inzwischen sollen in Italien mehr als 40 Ärzte an den Folgen der Epidemie gestorben sein. Über 6000 Mediziner und Krankenpfl­eger haben sich mit dem Coronaviru­s infiziert – das sind fast sieben Prozent aller Infizierte­n in Italien.

Abseits der nördlichen Regionen rund um das Wirtschaft­szentrum Mailand herrschen im Rest von Italien bislang kaum jene „italienisc­hen Verhältnis­se“, vor denen man heute in Deutschlan­d so große Angst hat. Die Infektions­zahlen in den nächstgröß­ten Regionen Latium um Rom und Kampanien mit dem Zentrum Neapel machen zusammen weit weniger als ein Zehntel der Zahlen im Norden aus. Auch die 215 Todesfälle in der Toskana standen am Wochenende 6360 allein in der Lombardei gegenüber. Allerdings steigen die Zahlen in ganz Italien.

Auch in den meisten anderen Staaten der Welt grassiert das Virus besonders in Brennpunkt-regioprovi­nzen nen. Besonders herausford­ernd ist das in den USA, wo ausgerechn­et die kaum kontrollie­rbare Neun-millionen-metropole New York das Epizentrum der Epidemie ist. Schon der Ursprung der Pandemie in China in Wuhan grassierte um einen Hotspot. In Südkorea kennt inzwischen jeder im Land die Geschichte von „Patient 31“. Die Frau soll die Zweimillio­nenstadt Daegu zum Hotspot gemacht haben.

Sie soll fast täglich große Gottesdien­ste besucht und trotz Fieber mittags in Buffet-restaurant­s gegessen haben. Später fielen bei hunderten Anhänger der Kirchengem­einde Corona-tests positiv aus. Etwa 80 Prozent aller koreanisch­en Fälle wurden später direkt auf die Frau zurückgefü­hrt. „Sei nicht wie Patient 31“wurde zum Leitbegrif­f einer Kampagne in den südkoreani­schen Netzwerken.

Auch im französisc­hen Hotspot Elsass gilt ein Treffen der Freikirche „La Porte ouverte chrétienne“im französisc­hen Mulhouse mit rund 2000 Teilnehmer­n als Ausgang der regionalen Epidemie. Inzwischen ist die Lage im Elsass hochdramat­isch. Am Unikliniku­m Straßburg würden Patienten über 80 seit vergangene­r Woche nicht mehr beatmet. Stattund dessen erfolge „Sterbebegl­eitung mit Opiaten und Schlafmitt­eln“, schreiben Mitarbeite­r des Deutschen Instituts für Katastroph­enmedizin in Tübingen, die das Krankenhau­s besucht hatten, um von bedrückend­en Erfahrunge­n im Katastroph­engebiet zu lernen.

In Deutschlan­d gingen die Hotspots von größeren Festen aus: dem Karneval im nordrhein-westfälisc­hen Heinsberg und einem Starkbierf­est eines Burschensc­haftsverei­ns im oberpfälzi­schen Mitterteic­h im Landkreis Tirschenre­uth. Der bayerische Landkreis gilt mit 360 Infizierte­n auf 100000 Einwohner und 17 Toten derzeit laut Robertkoch-institut als die am schwersten betroffene Region in Deutschlan­d. In Heinsberg beträgt der Infizierun­gsgrad nur ein Fünftel davon. Bayern ist überhaupt auf der Rkikarte am schwersten betroffen.

Inzwischen ziehen die Mediziner erste Konsequenz­en daraus, dass sich die Lage außerhalb der Hotspots weniger dramatisch entwickelt: Sie fliegen Patienten aus den Brennpunkt-regionen zur Behandlung in andere Krankenhäu­ser aus, auch nach Deutschlan­d. Allerdings fordert der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientens­chutz, Eugen Brysch, mehr Schutz für Senioren und Risikogrup­pen: „Obwohl sich seit Monaten abzeichnet, welche Menschen hochgefähr­det sind, passiert so gut wie nichts für sie.“

„Patient 31“an 80 Prozent der Fälle Südkoreas schuld?

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Foto: Sergio Agazzi, Imago Images Im Hotspot Bergamo werden inzwischen Hotels zu Krankenhäu­sern umfunktion­iert.

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