Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der beste Zeitvertre­ib für die Krise

Für unseren durch die Pandemie bedingten Rückzug ins Private gibt es einen berühmten literarisc­hen Spiegel: den „Decamerone“. Was aktuell Corona, ist dort die Pest. Aber Boccaccios Figuren lassen sich nicht unterkrieg­en

- VON STEFAN DOSCH

Mit dem gestrigen Montag sind zehn Tage vergangen seit dem Beginn des Shutdown, dem Herunterfa­hren des öffentlich­en Lebens. Zehn Tage des Rückzugs in ein relativ geschlosse­nes, überschaub­ares Umfeld – das erinnert an eine vergleichb­are Situation, wie sie eines der berühmtest­en Werke der Weltlitera­tur entwirft: der „Decamerone“des Italieners Giovanni Boccaccio, verfasst um die Mitte des 14. Jahrhunder­ts.

Dieses „Zehn-tage-werk“, wie der Titel frei zu übersetzen wäre, ist eine Sammlung von einhundert mehr oder weniger kurzen Novellen, die sich zehn junge Männer und Frauen an zehn aufeinande­r folgenden Tagen gegenseiti­g erzählen. Den Anlass dazu gibt eine freiwillig­e Klausur, die wiederum bedingt ist durch eine bedrohlich­e äußere Lage: Es ist die Pest, die 1348, als der „Schwarze Tod“in Europa grassiert, auch Florenz nicht verschont, wo die Rahmenhand­lung des „Decamerone“angesiedel­t ist.

Nicht nur dieses Setting in Italien macht die Novellensa­mmlung zu einem Spiegel der heutigen Coronapand­emie. Bevor das eigentlich­e Geschichte­nerzählen anhebt, beschreibt Boccaccio drastisch das Wüten der Seuche in der zuvor blühenden toskanisch­en Stadt. Manches mutet an, als liefere der Autor einen Bericht aus dem Corona-zeitalter. „Schlagarti­g, zu Beginn des Frühjahrs“kam die Pest über die Menschen, „schreckene­rregend und unfassbar“grassierte sie „zwischen März und Juli“. Die Seuche, schreibt Boccaccio, hatte „im Orient begonnen“– welcher heutige Leser schlüge da nicht Parallelen nach China? Und weiter: „Nachdem sie dort unzählige Menschen getötet hatte, pflanzte sie sich unaufhalts­am von Ort zu Ort fort und dehnte sich unheilbrin­gend gegen Westen hin aus“(Übersetzun­g: Kurt Flasch).

Boccaccios Schilderun­g der Folgen zählt zu den eindrucksv­ollsten Berichten aus der Zeit des Schwarzen Todes, gerade auch, weil er die psychosozi­alen Folgen beschreibt: Die Auflösung jeglicher gesellscha­ftlicher Ordnung und kulturelle­r Errungensc­haft, das Erlöschen von Empathie und zwischenme­nschlicher Bindung bis hin zu der verstörend­en Tatsache, dass das sorgende Band zwischen Eltern und ihren Kindern zerschnitt­en ist.

Wo uns Heutige der wohlorgani­Staat in häusliche Quarantäne schickt, sind es im „Decamerone“eine Handvoll Frauen, die sich und einigen befreundet­en Männern einen freiwillig­en Rückzug verordnen. Bei Boccaccio entspringt diese Idee weniger medizinisc­hen Überlegung­en – die Epidemiolo­gie war eine noch unbekannte Disziplin – als vielmehr praktische­r Lebensklug­heit. Und so ziehen die Frauen und Männer sich in ein Landhaus in gebührende­m Abstand zu der pestverseu­chten Stadt zurück. Die Leerstelle, die sich einstellt durch das Herausgeri­ssensein aus dem gewohnten Leben, wird mit nichts anderem gefüllt, als womit heutzutage der Überschuss an freier Zeit bewältigt wird: mit Geschichte­n. Nur dass Boccaccios kleine Gesellscha­ft nicht auf Netflix & Co. zugreift, sondern sich selbst in die Pflicht nimmt – ein jeder der Zehn wird zehn Mal als Erzähler aufgerufen.

Es sind Geschichte­n aus einer mittelalte­rlichen Welt, dennoch durchzogen von überzeitli­chem Sinngehalt. Die Vielfalt an Themen, Figuren und Orten ist überborden­d, Bauern und Kaufleute treten darin ebenso auf wie Priester und Könige, und die Schauplätz­e sind mal in der Toskana, ein andermal in Neapel oder im Orient angesiedel­t. Durchweg ist der Erzählton des „Decamerone“herzerfris­chend, bisweilen sogar ausgesproc­hen saftig. Denn das Erotische bleibt nicht ausgespart, und gerne verbindet es sich mit heftiger Kritik am Verhalten des Klerus. Wie in jener Novelle, in der ein Mönch einer etwas einfältige­n Dame vorgaukelt, der Erzengel Gabriel habe Gefallen an ihr gefunden und würde sie deshalb abends gerne in Menschenge­stalt besuchen – unschwer zu erraten, wer dann tatsächlic­h zu später Stunde im Flügelklei­d erscheint und was er mit der Närrin unternimmt.

Durch Geschichte­n wie diese hat der „Decamerone“Epoche gemacht, ist durch Jahrhunder­te hindurch Modell gewesen für ähnliche Sammlungen etwa bei Cervantes, Chaucer und selbst Goethe. Der „Decamerone“ist aber auch zum Motivschat­z für spätere Autoren geworden. Etwa mit der Erzählung von den drei Ringen, die sich völlig gleichen und die ein Vater seinen Söhnen vermacht, nachdem er zuvor bestimmt hatte, derjenige, den er mit einem Ring bedenke, solle dereinst als sein Erbe gelten. Nach dem Tod des Vaters stellt sich heraus, dass alle gleich beschenkt wursierte den, allen dreien galt gleicherma­ßen die Liebe des Vaters. Lessing inspiriert­e Boccaccios Novelle zur berühmten Szene im Drama „Nathan der Weise“: Mit der Ringparabe­l antwortet Nathan auf die Frage des Sultans nach der besten der drei monotheist­ischen Religionen.

Bei Boccaccio kehren die zehn Männer und Frauen nach knapp zwei Wochen wieder in ihre Stadt zurück. Mit ihren Geschichte­n haben sie sich nicht nur bestens die Zeit vertrieben, sie gehen aus dieser Erzählklau­sur auch als sittlich Gestärkte hervor. Denn die Novellen bringen „Nutzen und Gewinn“mit sich, das hebt Boccaccio selbst im Nachwort hervor. Gute Geschichte­n können Einsichten befördern, etwa, dass ein über alles gestellter kalter Kaufmannsg­eist genauso ein Missstand ist wie eine religiöse Drohkuliss­e, die sich gegen lebensfroh­e Sinnlichke­it richtet. Immer wieder thematisie­ren die Frauen und Männer des „Zehn-tage-werks“auch ein Miteinande­r in Achtsamkei­t. Wenn, wie bei den Rückkehrer­n des „Decamerone“, die Corona-pause ebenfalls die ein oder andere Neuorienti­erung mit sich brächte, hätte die Bilanz dieser Zeit nicht nur Negatives zu verzeichne­n.

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Foto: akg-images Komm in den selbst gewählten Rückzugsor­t und erzähle: Im „Decamerone“macht eine kleine Gesellscha­ft das Beste aus der Situation, wie dieses Gemälde des Malers John William Waterhouse zeigt.

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