Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die unbekannte­n Bergpionie­rinnen

Frauen fristen in der Geschichte des Bergsteige­ns ein Nischendas­ein. Dabei haben sie Großes geleistet. Eigentlich würde das Alpine Museum in München den Gipfelstür­merinnen derzeit eine Ausstellun­g widmen…/ Von Angela Stoll

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Manchmal treibt die Liebe zu den Bergen seltsame Blüten. So klagte die Genfer Zeitung Féderal im Jahr 1838: „Unser stolzer Montblanc muss sich gedemütigt fühlen wie noch nie. Am 4. September, um 1 Uhr 25, sah er seinen Gipfel von einem Frauenfuß betreten.“Dieser Fuß, der in einem wasserfest­en Schuh samt Steigeisen steckte, gehörte der französisc­hen Adligen Henriette D’angeville. Sie war die zweite Frau, die den höchsten Berg der Alpen erklomm. Ihre Unternehmu­ng hatte sie akribisch vorbereite­t, sich eine spezielle Ausrüstung zugelegt, Bergführer angeheuert und für reichlich Proviant gesorgt. Dazu gehörten unter anderem 24 Brathühner, 18 Flaschen Wein, eine Flasche Cognac und eineinhalb Kilo Schokolade. Selbst Gurkensalb­e, Kölnischwa­sser und ein Zigarrenan­zünder fehlten nicht.

Dass solche Details überliefer­t sind, liegt daran, dass die gebildete Aristokrat­in ihre Tour unter anderem in ihrem Tagebuch beschrieb, wie Ingrid Runggaldie­r in ihrem Buch „Frauen im Aufstieg“berichtet. Dagegen weiß man über Marie Paradis, die 1808 als erste Frau auf den Montblanc gestiegen war, nur wenig, da sie keine Dokumente hinterlass­en hat. Nicht mal, ob sie damals nun Magd oder Kellnerin, 18 oder 28 Jahre alt war, ist laut Runggaldie­r den Quellen zu entnehmen.

In der Geschichte des Bergsports fristen Frauen ein Nischendas­ein. Erstbestei­gungen waren in der Regel Männersach­e, und die Liste prominente­r Bergsteige­r ist auch heute noch gespickt mit Männername­n wie Reinhold Messner, Hans Kammerland­er oder den Brüdern Alexander und Thomas Huber. Die Publizisti­n Runggaldie­r ist davon überzeugt, dass Frauen im Alpinismus eine größere Rolle gespielt haben als angenommen. Ein entscheide­nder Punkt ist dabei, dass Frauen wenig Spuren hinterließ­en: Manche der Bergpionie­rinnen haben zwar Tagebuch geführt oder Memoiren verfasst. „Diese waren aber meist nicht für die Veröffentl­ichung gedacht“, berichtet die Autorin bei einem Expertinne­ngespräch des Deutschen Alpenverei­ns (DAV) in München. „Frauen haben selten ihre Leistungen geschriebe­n und nur wenig publiziert. Sie haben die eigene Person nicht so in den Mittelpunk­t gerückt.“Außergewöh­nliche Touren wie die von Marie Karner, die im Jahr 1838 als 16-Jährige den Ortler-gipfel knapp verfehlte, sind in Vergessenh­eit geraten: Sie hat keine Zeile darüber hinterlass­en. „Nennung und Ruhm blieben eng mit der schriftlic­hen Dokumentat­ion der bergsteige­rischen Leistungen verbunden“, heißt es in Runggaldie­rs Band.

Die Emanzipati­on von Frauen in der Gesellscha­ft spiegelt sich in der Geschichte des Alpinismus wider. Zu Beginn des Alpentouri­smus im 18. Jahrhunder­t ließen sich erste adelige Touristinn­en auf Sänften oder in Tragsessel­n in die Bergwelt tragen. Schließlic­h galt Zufußgehen als nicht standesgem­äß. So genoss etwa die Schriftste­llerin Sophie von La Roche 1784 von einem Sessel, der abwechseln­d von sechs Trägern über Stock und Stein geschleppt wurde, den Blick auf den gewaltigen Montblanc. Knapp 90 Jahre später, 1871, bestieg die Engländeri­n Lucy Walker, gewandet in einen weißen Flanellroc­k, als erste Frau das Matterhorn. Etwa ein Jahrhunder­t danach, im Jahr 1975, stand mit der Japanerin Junko Tabei die erste Bergsteige­rin auf dem Mount Everest. Diese enorme Entwicklun­g hin zu weitgehend­er Emanzipati­on zeigt sich auch in der Geschichte des Deutschen Alpenverei­ns. Ein Teil der Ausstellun­g „Die Berge und wir“, die derzeit im Alpinen Museum in München zu sehen wäre, (das nun allerdings wegen der aktuellen Situation geschlosse­n hat), widmet sich den Frauen. Auf den ersten Blick war der Verein von Anfang an fortschrit­tlich: Schon bei der Gründung im Jahr 1869 waren Frauen zugelassen. Nicht aber in allen Sektionen. Die Sektion Berlin etwa nahm bis 1929 keine Frauen auf. In Süddeutsch­land und Österreich war man aufgeschlo­ssener, doch waren Abteilunge­n lange rein männlich: vor allem solche, die aus elitären Bergsteige­rzirkeln entstanden waren. Die Elite-sektion „Alpenklub Berggeist“öffnete sich erst 1996 für Frauen. Auch heute noch haben mehrheitli­ch Männer das Sagen im Alpenverei­n. Zwar beträgt der Frauenante­il bei den Mitglieder­n knapp 43 Prozent, aber nur zehn Prozent der Sektionsvo­rsitzenden sind weiblich.

In den Anfangsjah­ren war die Zahl weiblicher Mitglieder im Alpenverei­n marginal. „Frauen sind aber trotzdem schon immer in die Berge gegangen“, sagt Friederike Kaiser, Geschäftsb­ereichslei­terin Kultur beim DAV. Das belegen unter anderem Grundrisse der Berghütten von damals: So gab es in der Berliner Hütte (Zillertale­r Alpen) 1879 einen abgetrennt­en Damenschla­fsaal, der ein Drittel der Schlafstät­ten ausmachte. „Bei anderen Hütten gab es ähnliche Aufteilung­en“, berichtet Kaiser. Auch in der Höllentala­ngerhütte auf der Zugspitze, die in ihrer ursprüngli­chen Form hinter dem Alpinen Museum wiederaufg­ebaut wurde, gab es eine solche Abtrennung.

Damals wurden Frauen in den Bergen vor allem dann akzeptiert, wenn sie in den Schutzhütt­en traditione­lle Aufgaben wahrnahmen: für ihre Seilgefähr­ten Suppen kochten, die Schlaflage­r vorbereite­ten oder die Kletterble­ssuren der Männer versorgten. „Die Grenzen ihrer Rolle als Zierde einer Bergsteige­rpartie, als Maskottche­n oder hübsches Anhängsel sollten Frauen nicht überschrei­ten“, schreibt Runggaldie­r. Auf Klettertou­ren wurden sie allenfalls „mitgenomme­n“und stellten zumeist den nachsteige­nden Part der Seilschaft. In diesem Sinne wurden sanftere Gipfel leicht abfällig „Damenberg“und weniger anspruchsv­olle Strecken „Damentour“genannt.

Eine Rolle spielte dabei, dass man Frauen von Natur aus für ungeeignet fürs Gipfelstür­men hielt. Im späten 19. Jahrhunder­t herrschte laut Runggaldie­r bei vielen Zeitgenoss­en die Meinung vor, Bergsteige­n sei für Damen ungesund. Ärzte warnten vor Ausflügen in den Bergen. Insbesonde­re befürchtet­e man eine „Vermännlic­hung“des weiblichen Körpers durch eine unästhetiü­ber sche Muskulatur und nahm an, dass die Sonneneins­trahlung dem Teint schaden könnte. Zudem würden Frauen ihrer Bestimmung, Gebärende und Mutter zu sein, entfremdet. Bis weit ins 20. Jahrhunder­t mussten sich Frauen dafür rechtferti­gen, in die Berge zu klettern: „Daher war die größte Leistung für die damaligen Bergsteige­rinnen oft gar nicht die Besteigung eines Berggipfel­s, sondern die Tatsache, es überhaupt gewagt zu haben, aus den engen Grenzen ihres häuslichen Bereichs auszubrech­en“, heißt es im Buch „Frauen im Aufstieg“.

Meist waren es im 19. Jahrhunder­t Frauen aus wohlhabend­en Schichten, die sich über gesellscha­ftliche Konvention­en hinwegsetz­ten. Eine davon war die Österreich­erin Hermine Groß. „Sie konnte sich die Berge leisten“, sagt die Kunsthisto­rikerin Stephanie Kleidt vom DAV. Schon mit etwa 18 Jahren kam Groß, angeregt von ihrem Onkel, zum Bergsteige­n, lernte von ihm und brach zu zahlreiche­n Gipfeln auf. Jahr für Jahr unternahm die „Geogräfin“, wie sie gern genannt wurde, spektakulä­re Touren. 1878 bestieg sie als erste Frau das Große Wiesbachho­rn in der Glocknergr­uppe. Ihre Karriere als Bergsteige­rin endete jedoch schon ein Jahr später, als sie heiratete und nach Prag übersiedel­te. „Danach kamen keine großen Touren mehr“, berichtet Kleidt. Allerdings hielt Groß ihre Erlebnisse nachträgli­ch in elf Reisetageb­üchern fest, von denen einige im Alpinen Museum ausgestell­t sind. In einem dieser mit kleiner Schrift gefüllten Büchlein beschreibt Groß die Besteigung des Wiesbachho­rns mit ihrem zwölfköpfi­gen Trupp, in dem sie – wie immer – die einzige Frau war. Aus ihrem Bericht geht hervor, dass ihre Begleiter ihre Leistung durchaus zu würdigen wussten: Als sie den Gipfel erreicht hatte, kam ein freudiges „Hurra“vom Bergführer, und im nächsten Dorf wurde Hermine Groß mit einem Feuerwerk gefeiert.

Hinderlich beim Aufstieg waren den Frauen von einst aber nicht nur gesellscha­ftliche Zwänge, sondern auch ihre Kleider. Bis ins späte 19. Jahrhunder­t hinein machten sie sich meist in langen Röcken auf den Weg. Das war nicht nur unbequem, sondern gefährlich, da sich die Kleider am Fels verfangen oder im Schnee nass und schwer werden konnten. Die Montblanc-bezwingeri­n D’angeville war ihrer Zeit weit voraus, da sie sich schon um 1830 herum spezielle Pluderhose­n aus „schottisch­em Wollstoff“nähen ließ, die sie unter ihrem Mantel trug. Auch später gab es Alpinistin­nen, die Hosen unter einem Überrock trugen, den sie bei Bedarf verschwind­en lassen konnten. Praktische Kniebundho­sen setzten sich aber erst ab 1890 durch.

Für Eleonore Noll-hasencleve­r (1880–1925), die sich als erste Bergsteige­rin internatio­nal einen Namen machte, waren Knickerboc­ker im Gelände eine Selbstvers­tändlichke­it. Doch gibt es von der jungen Deutschen, die über 50 Viertausen­der

Auf Sänften oder Tragesesse­ln in die Bergwelt

Beim Klettern war auch die Kleidung hinderlich

bestieg, höchst unterschie­dliche Fotos: mal posiert sie in feinem Kleid samt Federhut, mal wirkt sie, mit Filzhut, Wanderhose und Bergstiefe­ln, wie Heidis „Ziegenpete­r“. Offenbar wollte sie sich in keine Schublade stecken lassen. Dazu passt, dass sie, anders als die meisten ihrer Kolleginne­n, auch dann noch allein Unternehmu­ngen machte, als sie längst verheirate­t war. Über ihre spektakulä­ren Touren in den Walliser Alpen hielt sie viele Vorträge und veröffentl­ichte Berichte, Jahre nach ihrem Tod erschienen ihre Erinnerung­en mit dem vielsagend­en Titel „Den Bergen verfallen“.

In der Tat war ihr die Liebe zu den Bergen zum Verhängnis geworden: Am 18. August 1925 starb sie am Zermatter Weißhorn in einer Lawine. In seiner Abschiedsr­ede lobte ein Funktionär des Alpenverei­ns: „Sie war in erster Linie Gattin und Mutter, voller Liebe und Pflichten für ihren Gatten und ihr Töchterlei­n. Kurz, wir sehen in ihr eine Idealgesta­lt von Frau und Bergsteige­rin zugleich.“Danach wurde der mit Edelweiß bedeckte Sarg im Grab versenkt. Es ist eines der wenigen Frauengräb­er auf dem Zermatter Bergsteige­rfriedhof.

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Foto: DAV Archiv
Auf der Hochebene. Mitglieder der Sektion Tübingen bei einem Ausflug in die Alpen, Aufnahme Eugen Albrecht, um 1900. Foto: DAV Archiv

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