Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Deutschlan­d darf nicht nur den Großen helfen

Die Autoindust­rie muss massive Einbußen hinnehmen und braucht sicher staatliche Hilfe. Doch Hotel- und Gaststätte­nbesitzer verdienen ebenfalls Unterstütz­ung

- VON STEFAN STAHL sts@augsburger-allgemeine.de

Wenn der Krise etwas Gutes eigen ist, dann die Erkenntnis, dass nicht nur Branchen wie das Finanzgewe­rbe systemrele­vant sind. Den Eindruck konnte man noch während des letzten großen ökonomisch­en Bebens in den Jahren 2008 und 2009 gewinnen, als Geldhäuser reihenweis­e kollabiert­en. Nun wissen wir: Mindestens so systemrele­vant für das Wohlergehe­n eines Gemeinwese­ns ist die Gesundheit­swirtschaf­t, also Arztpraxen, Krankenhäu­ser, Pflegeeinr­ichtungen, Pharma-unternehme­n, Maskenhers­teller und Produzente­n von Beatmungsg­eräten. Daher klatschen wir Ärzten, Pflegern und Krankensch­western zu. Endlich erhalten sie nun zumindest die ihnen gebührende ideelle Wertschätz­ung. Mehr Lohn muss bald folgen.

Dabei gibt es mit der Autoindust­rie

einen Wirtschaft­szweig, der sich über mangelnde Empathie gerade seitens der Politik, wie auch immer Bundesregi­erungen in den vergangene­n Jahrzehnte­n zusammenge­setzt waren, nicht beklagen kann. Die Branche hält sich selbst für mega-systemrele­vant, arbeiten für sie doch mehr als 800 000 Menschen. Wenn die Autoindust­rie hustet, kann Deutschlan­d eine Lungenentz­ündung bekommen.

Deshalb verdient der Schlüsselw­irtschafts­zweig wie schon während der Finanzmark­tkrise die Unterstütz­ung der Bundesregi­erung. Doch es darf nicht bei einer Kopie der einstigen Umwelt- oder Abwrackprä­mie im Fall des Kaufs eines Neuwagens bleiben. Dieses Mal muss die Gewährung eines solchen Bonus noch viel stärker an ökologisch­e Auflagen gekoppelt werden.

Käufer sollten nur dann einen staatliche­n Zuschuss – also ein Geschenk der Steuerzahl­er-gemeinscha­ft – erhalten, wenn sie sich für ein Fahrzeug entscheide­n, das besonders wenig CO2 und Stickoxide ausstößt, ja dessen Reifenabnu­tzung so minimal wie möglich Feinstaub erzeugt. Somit spricht vieles dafür, vor allem kompakte Elektro- und Hybridauto­s noch einmal zusätzlich zu fördern. Die Autoindust­rie braucht Hilfe, denn die Hersteller können nur dann ihre Fabriken wieder rentabel auf Dauer hochfahren, wenn die Bürger trotz Corona-unsicherhe­it bereit sind, viel Geld in ein neues Auto zu investiere­n. Dass nun der Wehklage- und

Forderungs-chor der mächtigste­n deutschen Lobbygrupp­e nach Subvention­en Gehör findet, darf indes als gesichert betrachtet werden.

Die Bundesregi­erung sollte jedoch einen anderen Wirtschaft­szweig nicht vergessen, dessen gute Dienste derzeit so viele Menschen sehnsüchti­g vermissen. In Zeiten sozialen Abstands wird immer mehr Bürgern klar, wie relevant Kneipen, Restaurant­s, Cafés, Biergärten, Pensionen und Hotels sind. Gaststätte­n

bilden Wärme- und existenzie­lle Kontaktpol­e unseres Lebens. Wenn dann die Wirte und Hoteliers auch endlich wieder mit wahrschein­lich hohen Auflagen öffnen dürfen, sollten wir auch ihnen zuklatsche­n, etwa dafür, dass sie so lange durchgehal­ten haben und erneut für uns da sind. Das massenhaft­e isolierte Dauerkoche­n in deutschen Quarantäne-haushalten ist jedenfalls keine Dauerlösun­g.

Doch wenn sich die Politik nicht sputet, kommt für manche Gaststätte­nund Hoteleigne­r jede Hilfe zu spät. Dann gehen viele der Betriebe pleite. Die Branche findet in Berlin zwar schwerer Gehör als die Autoindust­rie, ist aber ebenso gesellscha­ftlich relevant mit 223000 gastgewerb­lichen Betrieben und rund 2,4 Millionen Beschäftig­ten.

Die Gastronome­n haben eine spürbare Starthilfe verdient, wenn sie wieder loslegen dürfen. Viele von ihnen halten sicher durch, falls Berlin ihren heißesten Wunsch erfüllt und den Mehrwertst­euersatz von 19 auf sieben Prozent senkt.

Die Reform ist überfällig und wirkt systemerha­ltend.

Kneipen sind ein Wärme- und Kontaktpol

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