Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Bitte küss mich, liebe Muse Corona und wir
Selbst im schönsten Homeoffice-paradies zerrt die ständige Ablenkung an den Nerven
Herrlich. Diese Stille. Um das kleine Holzhäuschen mit den Bambusröhren summen Mauerbienen herum. Ein perfektes Projekt für lange Tage zu Hause. Sehr entspannend. Die Mauerbienen kümmern sich um sich selbst. Man muss ihnen nur zuschauen. Eine Amsel zwitschert. Der Nachbar links unten mäht den Rasen. Im Halbschatten des Balkons steht ein Tisch mit Laptop drauf, daneben ein paar Stühle. Homeoffice, wie herrlich. Liebliche Muse, küss mich. Ich bin bereit. Fertig, ruft das Kind. Fügen Sie jetzt in Gedanken eine mindestens dreistellige Anzahl kleiner „e“in das fertig ein, um zu verstehen, wie das Wort vorgetragen wird. Das Kind ist dreieinhalb Jahre alt und mit einem pavarottischen Stimmvolumen gesegnet. Fertig. Widerspruch zwecklos. Auf Speichern geklickt. Sprint ins Bad.
Dort sitzt der Nachwuchs auf der Schüssel. Glasige Augen, roter Kopf. Wer Kinder hat, weiß, was nun zu tun ist. Allen anderen seien die Einzelheiten erspart. Der kluge Gedanke, der gerade eben noch im hintersten Hinterkopf Gestalt annahm, ist weg. Drüben im Arbeitszimmer sitzt die Mutter des Kindes. Telefonkonferenz mit den Kollegen. Normalerweise wechseln wir uns im Homeoffice ab.
Klappt meistens.
Nicht immer. Die Telefonkonferenz ist zu Ende. Das Kind wandert zurück in die
Obhut seiner Mutter.
Herrlich, diese Stille. Die Mauerbienen summen. Die Amsel zwitschert. Der Nachbar mäht. Auf dem Laptop gähnt die Leere eines Artikels, der geschrieben werden will. Soll. Muss. Raum für Notizen sind in dieser Zeitung nicht Teil des Gesamtkonzeptes. Ein Filterkaffee soll die verschreckte Muse anlocken.
Die Sonne wandert und scheint in den Laptop. Die kleinen Mistviecher summen. Die Amsel gibt mit ihren Freunden ein Konzert und der Nachbar mäht jeden Grashalm einzeln. Das Laptop wandert ins Arbeitszimmer. Fenster zu, Türe zu. Stille. Endlich. Erst einmal den Kollegen anrufen und den Eindruck erwecken, man habe eine wichtige
Frage. Dann ein bisschen parlieren über diese Pandemie, die uns alle in die eigenen vier Wände zwingt. Es tut gut zu hören, wie es dem dabei ergeht, der drei Kinder um sich schart. Jammern hat noch nie geschadet. Drei Kontrollbesuche einer Dreijährigen später ist es früher Abend geworden. Die Seiten im Sportteil sind gefüllt. Raus auf den Balkon. Der Rasen ist gemäht. Die Amseln schweigen. Wieder ein Tag geschafft. Söder hat das Oktoberfest abgesagt. Dieses Virus ist ein harter Gegner. Fast so hart wie eine Dreijährige, die noch eine Runde Memory spielen will. Mir wird diese Pandemie als die Zeit in Erinnerung bleiben, in der ich das letzte Mal gegen meine Tochter gewonnen habe.
An dieser Stelle berichten täglich Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion von ihrem Alltag in Zeiten von Corona.