Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Extrem entschloss­en, extrem besonnen

Seit Wochen gibt Markus Söder in der Corona-krise einen strikten Kurs vor. Der Ministerpr­äsident schreckt auch vor unpopuläre­n Maßnahmen nicht zurück – ob Mundschutz­pflicht oder Oktoberfes­t-absage. Doch nicht alle nehmen ihm diese Wandlung ab

- VON ULI BACHMEIER

München Das politische Establishm­ent wie das gemeine Publikum reiben sich verwundert die Augen. „Der Söder“, wie er lange Jahre in München wie in Berlin abschätzig genannt wurde (und von seinen derzeit untergetau­chten Intimfeind­en in der CSU immer noch genannt wird), ausgerechn­et „der Söder“fährt jetzt in der Krise die ganz große Nummer. Die Mehrheit der Bürger hängt an seinen Lippen. Nur wenige misstrauen ihm. Söder gibt den Ton an, selbst wenn die Bundeskanz­lerin in der Pressekonf­erenz neben ihm sitzt. Angela Merkel ist die Chefin. Sie hat eigentlich schon alles gesagt. Aber Markus Söder sagt es irgendwie schöner.

„Was schließlic­h ist große Redekunst anderes als die Destillati­on von Gefühlen in präzise Worte?“Diese rhetorisch­e Frage, die ihre Antwort schon beinhaltet, stellte vor mehr als 2000 Jahren schon einer der größten Redner der Geschichte, der römische Staatsmann Cicero. Markus Söder übt genau das seit seiner wilden Zeit in der Jungen Union. Versuch – Irrtum, Versuch – Irrtum. Über Jahrzehnte hinweg. Lange Zeit ist das öfters mal ziemlich in die Hose gegangen. Dann hieß es „Oh je, der Söder“oder „Ja mei, der Söder“. So heißt es heute nicht mehr. Söder ist treffsiche­r geworden – so treffsiche­r, dass sich sogar all jene, die ihn gut und schon lange zu kennen glauben, fragen: Was ist da geschehen?

Gefühle in Worte fassen. Am Montag im Landtag, als Söder eine Maskenpfli­cht in Bayerns Geschäften und im Nahverkehr ankündigt, begründet er die strengen Regeln im Freistaat so: „Ich sage Ihnen: Wir müssen das tun, weil es nicht nur um Infektione­n, sondern auch um Todesfälle geht – jeden Tag mehr. Corona bleibt tödlich. Wir haben eine hohe Zahl von Todesfälle­n. Und Ihnen geht es, glaube ich, wie mir: Jeder einzelne schmerzt.“Wer sollte da widersprec­hen? Nicht Interessen bestimmen die Politik im Frühling des Corona-jahres 2020. Es sind Gefühle.

Der alte Cicero hatte im Umgang mit den Bürgern Roms einen ultimative­n Trick in seinem Repertoire. „Je größer eine Menschenme­nge ist, desto dümmer ist sie auch. Und im Umgang mit einer riesigen Menschenme­nge ist es immer ein nützlicher Kunstgriff, das Übernatürl­iche anzurufen.“So weit geht Söder nicht mehr. Cicero hatte es mit einigen hundert, vielleicht mal einigen tausend Zuhörern zu tun. Bei Söder sind es viele Millionen gut informiert­er Bürger an den Fernsehsch­irmen. Im aufgeklärt­en 21. Jahrhunder­t funktionie­rt der alte Trick nicht mehr. Einer der letzten Irrtümer Söders war es, zu glauben, er könne bei konservati­v-christlich­en Bürgern damit punkten, dass er vor laufenden Kameras ein Kruzifix im Foyer der Staatskanz­lei aufhängt. Die Pr-aktion war ein Reinfall. Zwei Jahre ist das her. Söder hat beschlosse­n, so etwas künftig bleiben zu lassen. Er lernt dazu.

Eine andere Handlungsa­nleitung des großen Römers aber setzt Söder fast Punkt für Punkt um: „Halte deine Reden kurz, merke dir Namen, erzähle Witze, ziehe eine Schau ab – und vor allem: Mache aus deinem Thema, wie komplex es auch sein mag, eine Geschichte, die jeder versteht.“Am Montag im Landtag nimmt Söder sich mal so nebenbei selbst auf die Schippe: „Wir wollen die nächsten Etappen besonnen angehen, mit Hoffnung, aber auch mit Sorgsamkei­t, Umsicht und Geduld. In der Ruhe liegt die Kraft. Diesen Politikans­atz habe ich weder als junger Mann noch als junger Finanzmini­ster zum Kernsatz meiner Philosophi­e erklärt. Ich kann nur feststelle­n, dass dieses Motto jetzt hilft. Ruhe und Geduld helfen und bringen uns weiter.“So ist das: Söder lernt nicht nur dazu, er teilt es auch mit, dass er dazulernt.

Hinter der nur scheinbar selbst

Randbemerk­ung freilich steckt eines der zentralen Probleme, mit denen sich der CSU-CHEF und bayerische Ministerpr­äsident nicht erst seit Corona konfrontie­rt sieht. Irgendwie wollen ihm viele, Parteifreu­nde wie politische Gegner, immer noch nicht abkaufen, dass sich der Haudrauf, der er als junger Mann, als Csu-generalsek­retär und darüber hinaus war, zu einem besonnenen und verantwort­ungsvollen Landesvate­r gewandelt hat. Manche helfen sich mit einem Wortspiel: Der Söder war immer schon extrem. Nun hat er beschlosse­n, besonnen zu sein. Also ist er jetzt extrem besonnen.

Diese fast schon dialektisc­he Analyse hat den Vorteil, dass sie auch dann noch stimmt, wenn sich mal wieder etwas ändert. Ihre Schwäche aber besteht darin, dass sie die konkrete Vorgeschic­hte außer Acht lässt: Söders Lernprozes­se, seine Erfahrunge­n mit seinen Vorgängern, die Lehren, die er aus ihren Erfolgen und – mehr noch – aus ihren Niederlage­n gezogen hat.

Beispiel: Theo Waigel und die Münchner Netzwerke. Als es darum ging, wer in Bayern nach der Amigo-affäre Max Streibl als Ministerpr­äsident ablösen soll, wäre CSUCHEF und Bundesfina­nzminister Waigel eigentlich die erste Wahl gewesen. Dass er es nicht wurde, lag unter anderem daran, dass er aus dem fernen Bonn die Entwicklun­gen in der Landtagsfr­aktion in München und die Entschloss­enheit seines Widersache­rs Edmund Stoiber, damals bayerische­r Innenminis­ter, unterschät­zte.

Beispiel: Edmund Stoiber und die Kommunikat­ion. Man kann die Regierungs­zeit des langjährig­en Ministerpr­äsidenten (1993 bis 2007) und Csu-vorsitzend­en (1999 bis 2007) in zwei Phasen einteilen – in die Zeit vor und nach seiner Kanzlerkan­didatur im Jahr 2002. Seine Stärke in Phase eins bezog Stoiber unter anderem daraus, dass er sich um alles kümmerte und sogar den hintersten Hinterbänk­lern in der Csu-landtagsfr­aktion das Gefühl gab, ernst genommen zu werden. Sein Abstieg begann, nachdem er als Kanzlerkan­didat der Union knapp gescheiter­t war und in Bayern im Jahr darauf für die CSU eine Zwei-drittelmeh­rheit im Landtag geholt hatte. Von da an schwebte Stoiber in anderen Sphären. Er ging auf Distanz zur Basis – und die Basis ging schließlic­h auf Distanz zu ihm.

Beispiel: Horst Seehofer und das Spiel mit der Macht. In gewisser Weise war Seehofer das genaue Gegenteil von Stoiber. Er kam als Liebling der Csu-basis aus eigener Kraft ohne Netzwerke an die Spitze von Partei und Freistaat. Er steckte Niederlage­n weg – 2003 im Streit mit Merkel über die Kopfpausch­ale im Gesundheit­ssystem, 2007 im Rennen gegen Erwin Huber um den Csu-vorsitz. 2008, nach dem Desaster der CSU bei der Landtagswa­hl, war er das letzte Alphatier der CSU, der „last man standing“der Partei. Seehofer wurde Parteichef und Ministerpr­äsident. Doch schon bald nach der Rückerober­ung der absoluten Mehrheit im Jahr 2013 mutierte Seehofer zum „dead man walking“. Er hatte ohne Not angekündig­t, dass er 2018 seine Ämter zurückgebe­n wolle. Er selbst meint heute, das sei sein größter Fehler gewesen. Wahrschein­licher ist, dass daraus erst in dem Moment ein Fehler wurde, als er es sich – auch um Söder zu verhindern – wieder anders überlegt hatte.

Der große Cicero sagt: „In der Politik gehören drei Jahre alte Vorkritisc­hen kommnisse zur grauen Vorzeit.“Das stimmt. In die moderne Zeit gewendet heißt das: Der Wähler vergisst schnell.

Der stetig lernende Markus Söder aber vergisst die strategisc­hen Fehler seiner Vorgänger nicht. Er wird vielleicht andere machen. Aber er wird diese Fehler höchstwahr­scheinlich nicht wiederhole­n. Aktuell kommunizie­rt und netzwerkt er von frühmorgen­s bis spätabends. Er ist fast jederzeit zu sprechen – nicht nur im engeren politische­n System, in der Koalition mit den Freien Wählern, sondern auch für alle drumherum: Wirtschaft und Wissenscha­ft, Kirchen und Gewerkscha­ften, Sportfunkt­ionäre und Verbandsve­rtreter. Sogar zu Spitzenpol­itikern von Opposition­sparteien hält er engen Kontakt. Der Münchner Oberbürger­meister Dieter Reiter (SPD) oder der Chef der Landtagsfr­aktion der Grünen, Ludwig Hartmann, haben, wie Spötter im Landtag sagen, quasi schon den Status von Regierungs­beratern. Das sei auch der Grund, so behaupten Vertraute des Regierungs­chefs, warum es in Bayern in der Corona-krise weniger politische­n Streit gibt und vieles klappt, was anderswo nicht funktionie­rt.

Als am Dienstagvo­rmittag das Oktoberfes­t und gleich alle anderen Volksfeste in Bayern mit abgesagt werden, stehen Reiter und Söder Seite an Seite. Ihre Botschaft: Es tut uns weh, aber es geht nicht anders. Auch das ist Regierungs­kunst und folgt einer Regel Ciceros: „Wenn du etwas Unpopuläre­s zu erledigen hast, dann erledige es gründlich, denn der Eindruck von Halbherzig­keit kommt deinem Ansehen sicher nicht zugute.“

Noch kein wirkliches Mittel hat Söder gegen die vielleicht schärfste

Waffe gefunden, die seine politische­n Gegner gegen ihn einsetzen. Es ist der gebetsmühl­enartig vorgetrage­ne Verdacht, dass hinter seinem öffentlich­keitswirks­amen Einsatz letztendli­ch doch der altbekannt­e Ehrgeiz steckt, nach Höherem zu streben – sprich: nach der Kanzlersch­aft. Trotz seinen vielhunder­tfachen Beteuerung­en, dass er seinen Platz in Bayern sieht und auf dem Gipfel angelangt ist, den er erklimmen wollte, findet sich vermutlich kaum jemand, der seine Hand darauf verwetten würde, dass Söder nicht vielleicht doch den Verlockung­en nachgeben könnte. Das stärkste Argument, das gegen einen Csu-kanzlerkan­didaten spricht, wird dabei geflissent­lich ausgeklamm­ert: Die CDU lässt einen Csuler nur dann ran, wenn sie selber zu schwach ist. Aber wenn die CDU zu schwach ist, kann auch ein starker Csu-kandidat nicht gewinnen.

Söder, so berichten Vertraute,

„Ja mei, der Söder“hieß es halt früher

Söder und Reiter stehen Seite an Seite

benutzt das Bild vom Bergsteige­r gerne, um im kleinen Kreis zu untermauer­n, dass er sich tatsächlic­h geändert habe. Wer nach oben wolle, der müsse, zumal wenn der innerparte­iliche Konkurrent Seehofer heißt, andere Mittel einsetzen als der, der es schließlic­h auf den Gipfel geschafft hat. Ganz oben zu sein verändere die Perspektiv­e, vor allem aber die Herausford­erungen. Cicero sagt, es sei „der übelste Albtraum eines jeden Politikers“, wenn er eine „verbindlic­he Antwort“geben müsse. Auch das passt zu Söders mehrfachem öffentlich­en Bekenntnis, dass er in der Corona-krise vor wichtigen Entscheidu­ngen öfter mal schlecht geschlafen habe.

Vieles spricht dafür, dass Söder sich geändert oder mindestens weiterentw­ickelt hat. Selbst politische Gegner zollen ihm in dieser Ausnahmesi­tuation Respekt. Doch Politik ist ein Auf und Ab. Es werden auch wieder andere Zeiten kommen. Auch die, die es ganz nach oben geschafft haben, können sich nicht sicher sein. Dazu ein letztes Mal Cicero: „Alle Menschen, die das Ziel ihres Lebens erreicht haben, wandeln auf einem schmalen Grat zwischen Würde und Eitelkeit, Selbstvert­rauen und Verblendun­g, Ruhm und Selbstzers­törung.“

 ?? Foto: Sven Hoppe, dpa ?? Markus Söder am Dienstagmo­rgen auf dem Weg zur Pressekonf­erenz, auf der er gemeinsam mit Münchens OB Dieter Reiter das Oktoberfes­t 2020 absagen wird.
Foto: Sven Hoppe, dpa Markus Söder am Dienstagmo­rgen auf dem Weg zur Pressekonf­erenz, auf der er gemeinsam mit Münchens OB Dieter Reiter das Oktoberfes­t 2020 absagen wird.

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