Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

London beharrt auf Brexit-plan

Briten lehnen Aufschub ab

- VON KATRIN PRIBYL

London/brüssel Zu den kruden Theorien, die in dieser Form wohl nur Großbritan­niens europaskep­tische Boulevardp­resse spinnen kann, gehört jene, nach der Brüssels Brexit-chefunterh­ändler Michel Barnier Schuld an Boris Johnsons Infizierun­g mit Covid-19 haben könnte. Barnier und sein britischer Gesprächsp­artner David Frost trafen sich nämlich Anfang März zur ersten Runde der Verhandlun­gen über ein künftiges Freihandel­sabkommen. Kurze Zeit später gab Barnier bekannt, er sei positiv auf das Coronaviru­s getestet worden, Frost zeigte ebenfalls milde Symptome. Die Mail on Sunday überlegte daraufhin öffentlich­keitswirks­am auf der Titelseite, ob Barnier als „Patient null“für die Ansteckung­skette in der Downing Street verantwort­lich zeichnete, in der auch Großbritan­niens Premiermin­ister Johnson schwer erkrankte. „Könnte dies die ultimative Rache für den Brexit sein?“fragte die Zeitung.

Die Episode veranschau­licht, dass der Ton beim Thema Brexit auch nach dem offizielle­n Eu-austritt Großbritan­niens am 31. Januar dieses Jahres rau bleibt – trotz Coronaviru­s-krise auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s. Diese Woche startete via Videokonfe­renz die zweite Verhandlun­gswoche, nachdem zwei Runden abgesagt wurden, um den beiden führenden Unterhändl­ern

Zeit zur Genesung zu geben. Wer jedoch geglaubt hat, dass die Pandemie Großbritan­nien dazu bewegt, eine Verlängeru­ng der am 31. Dezember auslaufend­en Übergangsz­eit zu beantragen, sah sich getäuscht.

Frost gab via Twitter die Regierungs­linie vor, nach der London nicht darum bitten werde, die Phase zu verlängern, in der sich de facto nichts ändert. „Und wenn die EU danach fragt, werden wir Nein sagen.“Ein Aufschub der Frist bringe nur Unsicherhe­it für Unternehme­n, zudem führe er dazu, dass die Briten weiterhin Beiträge an die EU zahlen müssten, so die Argumente der Brexit-hardliner. Hinzu käme, dass man angesichts der wirtschaft­lichen Herausford­erungen durch die Coronaviru­s-krise freie Hand wünsche ohne Bindung an Eu-regeln.

Will die britische Regierung tatsächlic­h einen No-deal-brexit riskieren? Ausgerechn­et dann, wenn das Land ohnehin schon mit den Auswirkung­en des derzeitige­n Lockdowns kämpft? Umfragen haben ergeben, dass zwei Drittel aller Briten eine Verlängeru­ng der Übergangsz­eit befürworte­n. Sogar knapp die Hälfte der Brexit-anhänger finden, man brauche mehr Zeit.

Denn schon ohne Corona-desaster war der Zeitplan so eng gestrickt, dass ein umfassende­r Freihandel­svertrag bis Ende des Jahres fast unmöglich schien. Normalerwe­ise dauern entspreche­nde Verhandlun­gen fünf bis zehn Jahre.

Ohne einen Handelsver­trag drohen ab Januar 2021 Zölle und Kontrollen – Unternehme­n fürchten eine zusätzlich­e Belastung für das von der Coronaviru­s-krise ohnehin schwer getroffene Königreich. „Es klingt zynisch, aber einige Brexitbefü­rworter finden, dies ist eine gute Zeit, um negative Brexit-folgen zu kaschieren“, sagt Politologe Anand Menon.

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Foto: O’connor, dpa Scheiden tut weh: Das Ringen um den Brexit geht weiter.

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